Blutiger Klee: Roman (German Edition)
Kinderzimmern, an das einzige Badezimmer
im zweiten Stock, wo nur kaltes Wasser aus dem Hahn getröpfelt war. In den Gesellschaftsräumen
im Erdgeschoss hatte zwar immer ein Feuer im Kamin gebrannt, doch der einzig wirklich
warme Ort war die Küche von der Maridi gewesen. Aber die hatte sich verständlicherweise
schön bedankt, wenn ihr ständig die Kinder von der Herrschaft im Weg gestanden waren.
Und deshalb war ihre eigene Wohnung auch so geworden, warm und hell, sie hatte ihren
Willen durchgesetzt, wie immer. Wie fast immer.
Henriette
Gleinegg sah in den Spiegel. Die kleinen Spots in der Lichtleiste rund um den Spiegel
schmeichelten wie Galane, aber auch sie konnten die Falten nicht mehr hinwegzaubern.
Die strengen Linien. Die Kinnpartie, die immer nachgiebiger wurde. Alle ihre Freundinnen
hatten sich schon längst operieren lassen, in München oder Marbella, aber sie schreckte
noch immer vor diesem Schritt zurück. Zu viele hatten seither Gesichter wie groteske
Clowns, mit diesen prallen Kinderbäckchen und Lippen, die so dick waren, dass jeder
Bissen höllisch schmerzen musste. Und jeder Kuss. Sogar die Valerie Grabner hatte
eindeutig etwas machen lassen, das sah doch ein Blinder! Sie schwadronierte zwar
von einem Aufenthalt in dieser himmlischen neuen Therme, aber seit wann straffte
eine Dampfkammer die Nasolabialfalten? Die hatte sich unterspritzen lassen, mit
Eigenfett, ganz bestimmt.
Sie musste
sich endlich schminken und anziehen, das Abendessen für die Aids-Foundation begann
in wenig mehr als einer Stunde. Henriette Gleinegg griff nach einer Puderquaste,
doch dann ließ sie die Hand wieder sinken. So fühlte sie sich seit zwei Tagen, so
bleischwer. Seitdem sie es erfahren hatte. Alles, die ganze Geschichte. Dass der
Edi Schmutz ihr Bruder gewesen war. Nun ja, nur ihr Halbbruder, aber das war auch
schon gleichgültig. Und dass er ihren Vater … Der Edi. Bilder stiegen seither in
ihr auf, wie Sprudelblasen aus einer Quelle, sie konnte sie einfach nicht länger
niederhalten. Von einem jungen Burschen, den der Raffi immer mitgebracht hatte.
Der Raffi und sein unpassender Umgang mit der Dorfjugend, das Gesicht des Vaters
hatte Bände gesprochen. Später war aus dem Edi Schmutz so ein grobschlächtiger Klotz
geworden, aber damals war er ein braun gebrannter muskelbepackter Kerl gewesen,
mit einem frechen Grinsen, das auf ihrer Haut geprickelt hatte wie Brausepulver.
Sie selbst war damals eine affektierte Nocken gewesen, die sich für etwas Besseres
hielt und außerdem drei bedeutsame Jahre älter war als der Raffi und der Edi. Aber
trotzdem … Einmal war sie durch den Ort spaziert, und da waren die zwei an ihr vorbeigeknattert,
auf dem Moped vom Edi, der Raffi auf dem Soziussitz, und der Edi hatte gehupt und
gewunken. Sie hätte sich so gerne dazugequetscht, aber sie war bloß weiterstolziert,
ganz blasiert, ganz die junge Baronesse, und hatte nicht den Kopf gewendet. Und
dann war sie dem Edi einmal auf der Treppe begegnet, spät am Abend, er war aus dem
Zimmer vom Raffi gekommen und wollte sich gerade aus dem Haus stehlen, ohne einem
von den Erwachsenen zu begegnen. Er hatte einen Gruß gemurmelt und war an ihr vorbeigehastet,
einen Moment lang hatte sie sein verschwitztes Hemd gestreift und dieser Geruch
nach Heu und Motoröl und etwas anderem, von dem sie noch nicht gewusst hatte, dass
es der Duft der Jugend war. Sie hatte ihm nachgeschaut und sich gedacht, dass dieser
Edi eigentlich ein ziemlich fescher Bursch war. Das hatte sie sich gedacht, der
Herr stehe ihr bei. Über ihren eigenen Bruder. Halbbruder. Dann hatte sie den Edi
aus den Augen verloren, zum Glück. Sie hatte nur ab und zu einen Satz aufgefangen,
meist vom Raffi. Dass der Edi Schmutz eine Kochlehre machte. Dass der Stiefvater
vom Edi Schmutz vom Traktor erdrückt worden war. Dass der Edi ins Ausland gegangen
war und ordentlich Karriere machte, als Koch. Dann hatte sie ihn ganz vergessen.
Und jetzt war er zurückgekehrt in ihr Leben und würde dazugehören bis zu ihrem letzten
Atemzug. Auch wenn er selbst tot war, ertrunken im See. Ihr Bruder. Ihr Halbbruder.
Der ihren Vater erstochen hatte. Seinen Vater.
Die Trauer
kam so plötzlich über sie, dass sie beinahe um Luft ringen musste. Henriette Gleinegg
schlug die Hände vors Gesicht und weinte, das hatte sie sich schon so viele Jahre
nicht mehr gestattet. Es war, als ob ihr endlich warm werden würde.
*
Pestallozzi stand vor der geöffneten
Kühlschranktür. Milch, Butter, Eier,
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