Blutiger Klee: Roman (German Edition)
ihren Mundwinkel, es war so unbeholfen und zärtlich zugleich. Sein Gesicht
war so kühl und ihres so heiß, sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie in diesem
Moment Schuhe angehabt hätte. Dann waren die Stimmen und Schritte der anderen schon
ganz nah und der Moritz ging davon. Sie hatte ihn nie wiedergesehen.
Tagelang
schlich sie um die Villa mit den weißen Heckenrosen herum. Eine eigentümliche Geschäftigkeit
schien zu herrschen, einmal kam sogar der Briefträger angehastet mit einem Telegramm.
Vom Moritz war nichts zu sehen. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, hinter welchem
Fenster sein Zimmer lag. Endlich hatte sie sich auf den Heimweg gemacht, die Mutter
brauchte sie zum Wäscheauswringen. Auf der staubigen Straße war ihr der Leonhard
entgegengekommen und hatte sie angegrinst, dann hatte er ausgespuckt. Und mit einem
Schlag hatte sie begriffen, was das Ausspucken bedeuten konnte.
Am nächsten
Morgen waren alle Fensterläden zu und das Gartentor versperrt und mit einer Kette
umwickelt gewesen. Fassungslos war sie davorgestanden. Die nächsten Tage hatte sie
wie in einem Fieber verbracht. Einmal war sie von der Mutter zur Kramerin geschickt
worden, um Seifenflocken. Die hatte sich gerade mit zwei Bäuerinnen unterhalten.
»Verdacht auf Lungenentzündung, sagt der Doktor. Nur gut, dass gleich alle mitgefahren
sind. Und nächstes Jahr, da möcht’ ich sehen, ob die noch einmal kommen. Da herrschen
dann schon andere Sitten.«
Die Kramerin
hatte ihr die Seifenflockenpackung gegeben und den Preis in ein kleines Heft eingetragen,
dann war sie aus dem Geschäft geflüchtet.
Der Herbst
und der Winterbeginn hatten sich gezogen wie Strudelteig. Aber im Advent hatte sie
ihren ganzen Mut zusammengenommen und war zum Herrn Pfarrer gegangen, nach dem Religionsunterricht.
Ein unerhörtes Betragen, als halbes Kind noch den Herrn Pfarrer anzureden, ohne
dazu aufgefordert worden zu sein. Wenigstens war es Dezember gewesen, und sie hatte
Schuhe getragen. Aber sie hatte ihm einfach die eine Frage stellen müssen, die plötzlich
wie ein Licht in ihrem Kopf aufgeflammt war, als sie sich wieder einmal um den Schlaf
gegrübelt hatte. »Ist denn unser Herr Jesus nicht auch ein Jude gewesen?«
Der Herr
Pfarrer hatte dreingeschaut, als ob das Kruzifix von der Wand gepoltert wäre. Seine
Worte waren wie eine Lawine über sie hereingebrochen, sie war nur dagestanden und
hatte den Kopf gesenkt gehalten. Am Schluss hatte sie hundert Mal ›Ich soll unseren
Herrn Jesus nicht entehren und verspotten‹ in ein Heft schreiben müssen, das die
Mutter extra kaufen musste. Weihnachten war ein trauriger Tag geworden, obwohl sogar
eine kleine Fichte in der Stube stand, mit Nüssen an den Zweigen.
Dann wurde
es Frühling, nasskalt und düster. Eine Ahnung von etwas Ungeheuerlichem lag in der
Luft, alle schienen kaum noch zu atmen. Und im März geschah es. ›Der Führer‹ kehrte
zurück in seine Heimat. Sie wusste kaum etwas von ihm, nur einmal hatte sie seine
Stimme aus dem Radio von der Kramerin bellen gehört und beinahe kichern müssen.
So komisch klang der, als ob er ein paar Stamperln zu viel getrunken hätte. Das
heißt, eigentlich klang er nicht wirklich komisch. Schon eher zum Fürchten. Aber
so viele andere fürchteten sich nicht, sondern standen an den Straßen und jubelten
und winkten. »Jetzt wird’s endlich besser«, hörte sie die Erwachsenen sagen. In
allen Ortschaften wurden Fahnen gehisst mit genau demselben Kreuz, das immer am
Motorboot vom dicken weltberühmten Schauspieler flatterte. Woher die plötzlich alle
kamen, die Fahnen?
Dann wurde
es Sommer, aber der Moritz kam nicht. Sie hatte es ja schon geahnt, aber trotzdem
fühlte sich jeder neue Tag wie ein Glassplitter unter ihren nackten Sohlen an. Wo
war er? War er in Gefahr? Und die kleine Rachel? Man hörte so schlimme Geschichten,
wie es in Ischl und in Salzburg und in Wien zuging. ›Juden unerwünscht‹ stand plötzlich
neben den Schildern mit ›Zimmer frei‹, und sie ging daran vorüber und war einen
Herzschlag lang froh, dass der Moritz nicht da war und das sehen musste, wo er doch
den See und die Berge so sehr liebte. Dann wurde es wieder Winter und der Kummer
war wie ein Klumpen in ihrer Brust, gegen den es keinen Tee und keinen Saft gab.
Das große schöne Haus von der Tante bekam einen neuen Besitzer, einen ›Filmreschisör‹,
nicht einmal der neunmalkluge Jakob wusste so richtig, was das war. Und sie selbst
wurde älter. Größer. Reifer. Sie trug
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