Blutiger Klee: Roman (German Edition)
wie ein kleiner Spazierstock. Die Kramerin hatte ihm die Zuckerstangen
über den Ladentisch gereicht und sein Geld genommen, dann hatte sie zu ihr geblickt.
»Weiß deine Mutter, mit wem du da Umgang hast?«
Sie hatte
die Frage nicht verstanden und nur mit den Achseln gezuckt. Die Zuckerstangen waren
dann so klebrig gewesen, dass es gar keinen Spaß gemacht hatte, sie zu schlecken.
Wespen surrten wie wild um ihre Köpfe herum, die Rachel hätte beinahe eine verschluckt.
Und jetzt,
in diesem Sommer, hatten sie überhaupt keine Lust mehr, andere Menschen zu treffen.
Es war wie ein unausgesprochenes Band zwischen ihnen. Einmal kam ihnen der Leonhard
entgegen mit seiner Lederhose und den weißen Stutzen und seinem Gang wie ein Gockel.
Und sie waren alle drei vom Weg abgebogen, ohne ein Wort, runter zum Schilf. Sie
hätte nicht sagen können, warum. Sie spürte nur, dass es besser so war.
Manchmal
gab es noch Momente wie früher, dann konnte auch der Moritz plötzlich lachen. Als
sie einmal in einen Kuhfladen gestiegen war mit ihren nackten Füßen und die Rachel
zuerst so gekreischt und sich dann die Schuhe ausgezogen und es ihr nachgemacht
hatte.
Der Juli
zog vorbei wie eine Wolke am Himmel, der August roch schon nach Herbst und Regen.
Rachel hatte Fieber und musste zu Hause bleiben. Im ersten Moment hatte sie ein
ganz unschönes Gefühl, fast wie Freude, gespürt. Endlich würde sie einmal mit dem
Moritz allein sein können! Aber es machte ihr Zusammensein nicht einfacher, ganz
im Gegenteil. Schweigend stromerten sie am Ufer entlang und sahen den Schwaneneltern
und ihren Küken zu, die irgendwelchen Bröckchen nachschwammen. Sie hielt es nicht
mehr aus. Wahrscheinlich fand er sie einfach nur langweilig. Der Moritz ging doch
schon aufs Gymnasium in Wien, wo man fremde Sprachen lernte und mit Zahlen rechnete,
die unaussprechlich waren.
»Freust
dich schon wieder auf die Schule?«, fragte sie und sah angestrengt hinüber zum Bürglstein,
um sein unnahbares Gesicht nicht anschauen zu müssen.
Er schwieg
so lange, dass sie schon glaubte, er hätte ihre Stimme überhört, wieder einmal.
Als er endlich antwortete, zuckte sie beinahe zusammen.
»Tu ich
nicht«, sagte der Moritz, ihr Moritz. »Ich bin jetzt in einer Judenklasse.«
Die Welt
konnte in einem einzigen Moment einen Sprung bekommen, das wusste sie seit damals.
Alle ihre diffusen Ängste und Ahnungen wurden wahr, mit einem einzigen Wort. Der
Moritz war also auch ein Jude. Aber der Moritz war doch Österreicher wie sie? Oder
nicht? Waren Juden nicht katholisch? Oder nur reich? Hatte das jetzt mit dem Leonhard
zu tun und den anderen mit den weißen Stutzen, die immer mehr wurden? Ihr Kopf schien
zu zerspringen. Was sollte sie sagen? Wie konnte sie ihm helfen? Aber es fiel ihr
nichts ein. Alles, was ihr einfiel, war, nach seiner Hand zu greifen. Seine war
so kalt und ihre war voller Schwielen. Aber für die ein, zwei Stunden Glück jeden
Tag half sie schon den ganzen Sommer noch härter als sonst auf dem Hof mit, um nur
ja die Eltern nicht zu erzürnen. Hoffentlich störten ihn die Schwielen nicht. Doch
er hielt ihre raue Hand fest.
Wie schön
der See war. Und die ganze Welt. Wenn man sich den Leonhard und die Kramerin und
die anderen fortdachte. Der Raddampfer kam gerade durch die schmalste Stelle angepflügt,
wo die besonders guten Schwimmer immer von einem Ufer zum anderen kraulten. Musik
und Lachen wehten über das Wasser, offenbar spielte einer Ziehharmonika auf dem
offenen Deck. Sie winkte hinüber zu den bunt gekleideten Menschen, in ihr war so
ein Glücksgefühl, sie konnte einfach nicht anders. Aber mit der rechten Hand, niemals
hätte sie mit ihrer linken den Moritz losgelassen.
Irgendwann
standen sie auf und gingen zurück, sie waren wie miteinander verwoben. Durch das
Gestrüpp und das kleine Wäldchen vor dem Moos bis zum kurzen Weg, der hinauf zur
Straße und weiter zur Villa der Tante führte. Eine abgeknickte Glockenblume streifte
mit ihrem Köpfchen schon fast den Boden und sie hob sie auf. Am Ende vom Weg blieben
sie beide stehen, im Schatten eines Holunderstrauchs, der fast schwarz war von Beeren.
Der Moritz sah irgendwie getröstet drein, dabei wusste sie noch immer nichts zu
sagen. Wie schön er war. Gleich würde jemand kommen, Stimmen waren von der Straße
zu hören. Er sah sie an und lächelte, zum ersten Mal nach langer Zeit. Dann beugte
er sich einen Augenblick lang zu ihrem Gesicht und streifte ihre Wange, seine Lippen
berührten
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