Blutiger Klee: Roman (German Edition)
In
einer Villa gab es Feste und Musik und Wein und dann noch andere Sachen, aber über
die wurde nur getuschelt, sie verstand kein Wort, sosehr sie auch die Ohren spitzte,
wenn die Erwachsenen nach der Kirche am Sonntag zusammenstanden.
Einmal hatte
sie das Wort ›Juden‹ aufgeschnappt. Das kannte sie schon aus dem Religionsunterricht.
»Die Juden haben unseren Herrn Jesus ans Kreuz genagelt«, hatte der Herr Pfarrer
ihnen diktiert, und sie hatten es alle in ihre Hefte gemalt. Schrecklich, dann mochte
sie diese Juden auch nicht. Und dann war einmal ein riesengroßes grün glänzendes
Auto an ihnen vorbeigefahren, an ihr und am Jakob und am Alois, als sie auf der
Straße nach Hause gingen. Sie hatten alle drei total erschrocken einen Hopser zur
Seite gemacht, der Alois war sogar in den Graben gepurzelt. Und plötzlich war das
Fenster auf ihrer Seite heruntergekurbelt worden und eine Dame hatte herausgeschaut,
die einen Hut getragen hatte wie ein Wagenrad aus Stroh.
»Woher kommt’s
ihr denn?«, hatte die Dame gefragt, sogar sehr freundlich. Aber sie hatten nur auf
ihre nackten Füße gestarrt, was hätten sie der Dame auch antworten sollen. Dann
hatte ein Mann neben der Dame gesprochen, dessen Gesicht sie nicht sehen konnten.
»Du siehst doch, das sind nur kleine Dorfdeppen!« Die Frau hatte den Kopf geschüttelt
und gelacht, dann hatte sie im Autoinneren herumgekramt. Und dann waren plötzlich
Bonbons aus dem Wagenfenster geflogen, wie ein bunter Hagelschauer. »Weiter«, hatte
man die Männerstimme noch hören können, und das Auto war weitergefahren, in einer
Staubwolke, damals war die Straße am See entlang noch nicht geteert gewesen.
Sie waren
alle drei dagestanden wie angewurzelt. Dann hatten sie und der Jakob angefangen,
die Bonbons aufzuklauben. Es war wie Weihnachten und Ostern zusammen gewesen. Nur
der Alois war stocksteif stehen geblieben und hatte gerufen: »Von Juden darf man
nix nehmen!«
»Wieso weißt
denn überhaupt, dass das Juden waren?«, hatte der Jakob gefragt. Der Alois hatte
nachgedacht, man hatte ihm die Anstrengung richtig ansehen können. »Weil alle Juden
reich sind!«, war ihm schließlich eingefallen. Aber sie und der Jakob hatten nur
die Schultern gezuckt und sich die Beute aufgeteilt. Am allerköstlichsten waren
die Bonbons in dem himbeerroten Glanzpapier gewesen, die weiße Füllung hatte geschmeckt
wie … wie Wolken, wie der Himmel. Viele Jahre später war sie draufgekommen, dass
die Fülle Marzipan gewesen war. Und der Alois hatte ihnen natürlich nicht lange
zuschauen können, sondern auch noch ein Bonbon verdrückt, Juden hin oder her.
Trotzdem,
der Alois schien wirklich viel über diese Juden zu wissen. Oder besser gesagt, sein
großer Bruder, der Leonhard. Der lief plötzlich in weißen Stutzen herum, auch wochentags,
und marschierte ständig mit herausgedrückter Brust durch den Ort, als ob eine Parade
wäre. Viele grüßten den Leonhard jetzt, als ob er schon der neue Herr Bürgermeister
wäre. Nur der alte Loibner hatte einmal ausgespuckt, aber erst, als der Leonhard
schon um die Ecke vom Kramerladen verschwunden war. Dann hatte der Loibner sie entdeckt,
wie sie dagestanden war und ihn angestarrt hatte. Er war über die Straße zu ihr
gekommen, sie hatte sich schon geduckt, weil sie fest mit einer Ohrfeige rechnete.
Ohrfeigen gab es oft genug, ohne dass man den Grund dafür erfuhr. Aber der große
klobige Loibnerbauer hatte sich stattdessen nur ganz ängstlich zu ihr heruntergebückt
und geflüstert: »Kathi, du verratst mich doch nicht, net wahr?« Sie hatte völlig
ratlos den Kopf geschüttelt. Was hätte sie denn schon verraten können? Dass der
Loibner ausgespuckt hatte? Das taten doch alle Männer, den Frauen ekelte davor,
vor allem wenn es so braune Kautabakbatzen waren. Sie hatte also noch einmal den
Kopf geschüttelt, dann war der Loibner endlich davongegangen, ganz nah an der Hauswand
entlang und nicht so grobklotzig wie sonst.
Ihre Füße
waren schon ganz kalt. Sie hob das linke Bein an, wie ein Storch, obwohl sie diesen
seltsamen Vogel nur von einem Bild im Kramerladen kannte. ›Das allerbeste Milchpulver
für Ihr Kind‹, stand darunter. Der Storch auf dem Bild hielt eine Windel mit einem
Bündel im Schnabel, das bei genauem Hinsehen wahrhaftig ein winzigkleines Kind war.
Angeblich glaubten die Menschen in der Stadt, dass der Storch dann über einem Schornstein
das Bündel fallen ließ, und so die Kinder auf die Welt kamen. Das hatte ihr die
Kramerin
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