Blutiger Klee: Roman (German Edition)
jetzt sogar im Sommer Schuhe. Der Vater war
im Krieg, genauso wie die Nachbarn und der Leonhard und der Toni, der Sohn von der
Kramerin. Und dann war der Krieg vorbei, und der Vater kam zurück, aber nicht der
Onkel Rudi und auch nicht der Vater vom Jakob. Und der Leonhard starb beinahe an
einer Blutvergiftung, als er sich mit Bimstein ein ›A‹ von der Haut zu rubbeln versuchte,
angeblich seine Blutgruppe. Wer kam bloß auf die Idee, sich die Blutgruppe auf den
Oberarm tätowieren zu lassen? Und dann bekamen sie plötzlich noch ganz andere Tätowierungen
zu sehen, es war wieder Sommer. Das Lager am Traunsee, über das immer nur getuschelt
worden war, entließ seine letzten noch lebenden Gefangenen. Die meisten flüsterten
heiser auf Russisch und Polnisch, aber es waren auch Österreicher darunter, die
vorher in diesem schrecklichen Lager weit weg da oben im Reich gewesen waren. Wo
so viele Züge hingefahren waren. Wie Gespenster schleppten sie sich am See entlang,
manche hatten Nummern am Unterarm eintätowiert. Als sie diese Männer sah, die meisten
noch jung, aber mit uralten Gesichtern, gab sie alle Hoffnung auf, den Moritz noch
einmal wiederzusehen.
Irgendwann
hatte sie ihren ersten Freund gehabt und dann den Matthias kennengelernt und geheiratet.
Ihr einziges Kind war tot zur Welt gekommen. So vielen Frauen hatte sie helfen können,
nur sich selbst nicht. Der Matthias war ein guter Mann gewesen. Und die kleine Anna
in den Armen zu halten, das hatte sich angefühlt, wie ihr eigenes Kind zu wiegen.
Aber nie wieder hatte sich eine Berührung angefühlt wie damals, als der Moritz ihre
Wange gestreift hatte, mit seinen Lippen.
*
Die 84-jährige Kathi stand am Fenster
und blickte auf den nachtschwarzen See hinaus. Wie tröstlich still und kalt die
Welt war. Der Mond hing noch wie eine durchsichtige Sichel am Himmel, aber hinter
den Gipfeln schimmerte schon der Tag herauf. Heute, nein, gestern hatte sie den
Moritz wiedergesehen, vor dem ›Kaiserpark‹. Er war kein Gespenst gewesen und auch
bestimmt kein Engel. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und gelacht und einem anderen
jungen Mann auf den Rücken geklopft. Aber er war es gewesen, ganz deutlich, unverkennbar,
unvergesslich. Sie selbst war eine alte Frau geworden, aber er war jung geblieben.
Jung und wunderschön wie damals. Nur sein Haar war länger geworden und hatte sich
zu dunklen Locken geringelt, wie eine Dornenkrone. Und groß war er geworden. So
selbstsicher und stark. Sie stand am Fenster ihrer Schlafkammer und sah auf den
See hinaus. Fühlte ihr Herz in der Brust schlagen. Heute hatte es einen richtigen
Holperer gemacht. Sie wusste keine Erklärung für das, was sie gesehen hatte. Aber
sie fürchtete sich nicht. Moritz, ihr Moritz war davongekommen.
II
Leo fand bereits nach der zweiten
Runde eine Parklücke, zwischen einem Mercedes-Cabrio mit CD-Kennzeichen und einem
aufgemotzten, knallrot lackierten VW-Beetle. Sie stiegen aus und gingen auf das
Anwesen zu, das sich ganz im Gegensatz zu den Nachbarhäusern nicht hinter einer
festungsähnlichen Mauer versteckte. Pestallozzi war die Adresse gleich bekannt vorgekommen,
jetzt wusste er auch, warum. Im Erdgeschoss der Villa am Salzachkai befand sich
die bekannteste Galerie der Stadt, hier fanden mehrmals im Jahr Vernissagen statt,
zu denen sogar die internationale Prominenz anrauschte. Erst vor ein paar Tagen
hatte er die Exfrau von Mick Jagger – oder war es die von Paul McCartney gewesen?
– in einem Kulturbeitrag der Abendnachrichten gesehen, wie sie am Arm eines Mannes
gelangweilt eine spinnenähnliche Installation betrachtete. Rund um die Villa erstreckte
sich ein Park mit sorgfältig gestutzten Hecken und Buchsbaumkugeln, Skulpturen aus
schimmerndem Metall waren so lässig wie Bocciakugeln auf dem grünen Rasen platziert.
Der Blick auf die Berge ringsum war einfach atemberaubend, selbst wenn man als Einheimischer
an die Schönheit der Landschaft gewöhnt war.
Leo drückte
bereits die Nase gegen eine der riesigen Scheiben der Galerie, die offenbar geschlossen
war. Pestallozzi rechnete jeden Moment damit, dass ein Alarm losschrillen würde,
ausgelöst von Leos vorwitziger Nasenspitze. Aber nichts dergleichen geschah. Nur
eine Frau erschien hinter den Scheiben, sie trug eine geblümte Kittelschürze und
Gummihandschuhe, von denen Seifenschaum tropfte, und deutete eindringlich nach rechts.
Leo und Pestallozzi nickten der Frau freundlich zu, dann nahmen sie den Weg, den
sie ihnen
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