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Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Klee: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Faro
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Ausschlag bekommen. Ich glaube ja bis
heute, dass es bloß Akne war. Eine schwere Akne eben. Sie war 16 Jahre alt. Sie
hat überall so eitrige Pusteln bekommen, im ganzen Gesicht und am Hals, sie hat
sich ja nicht einmal mehr vor uns Schwestern ausgezogen. Keiner hat ein Wort gesagt,
aber jeder hat an die Krankheit in unserer Familie gedacht. Mir hat es so schrecklich
leid getan, dass ich ihr damals von der Tante Gisela erzählt habe, ich habe das
ja in meinem kindischen Schrecken noch viel mehr aufgebauscht. Einmal habe ich versucht,
mit der Charlotte darüber zu reden, aber sie war so verzweifelt und hat nur den
Kopf geschüttelt. Damals ist sie auch immer frömmer geworden. Sie ist ständig in
die Kirche gegangen und hat gebetet und gefastet. Einmal war sie bei unserem Hausarzt,
der hat ihr die Pusteln aufgeschnitten und daran herumgedrückt, aber davon ist alles
nur noch schlimmer geworden. Uns Schwestern hat der Vater ja nie geschlagen wie
den Raffi, nur mit Worten. Wie schaust denn du aus, hat er zur Charlotte gesagt,
wie sie damals vom Doktor gekommen ist. Dich kann man ja nirgendwo herzeigen. Das
war im Sommer. An einem Sonntag im September ist die Charlotte dann in der Früh
runter zum See schwimmen gegangen. Stundenlang ist niemandem aufgefallen, dass sie
weg war. Sie ist erst zwei Tage später angeschwemmt worden, drüben auf der gegenüberliegenden
Uferseite beim Parkplatz. Urlauberkinder haben sie im Schilf entdeckt. Ich will
bis heute glauben, dass sie einen Krampf im Bein bekommen hat. Alles andere wäre
unerträglich.«
    Henriette
Gleinegg verstummte. Dann füllte sie neuerlich ihr Glas und hielt es in die Höhe,
aber diesmal wartete sie ab. Pestallozzi griff ebenfalls nach seinem Glas, Leo tat
es dem Chef nach. Dann tranken sie ex, alle drei. Leo empfand zum ersten Mal, dass
Schnaps wirklich eine Wohltat sein konnte. Er brannte durch die Kehle und den Brustkorb
hinunter bis in den Bauch und verdrängte für einen Moment alle anderen Empfindungen,
Entsetzen und Abscheu, Betrübnis und Wut.
    »Im September?«,
fragte Pestallozzi.
    Sie nickte.
»Am 23. September.«
    »Aber das
ist doch … das war doch …!« Leo war plötzlich ganz aufgeregt.
    Henriette
Gleinegg nickte wieder. »Mein Vater ist an ihrem Jahrestag ermordet worden. Deshalb
war ja auch meine Schwester Helene da. Weil sie dann immer Blumen für die Charlotte
in die Gruft von unserer Familie legt. Bonbondahlien, das waren ihre Lieblingsblumen.
Ich gehe lieber allein spazieren und denke an sie.«
    So war das
also, dachte Pestallozzi. Endlich fügten sich zwei Puzzlesteinchen in dem ganzen
Haufen zusammen. Und alle hatten sie davon gewusst, die Familie in der Bibliothek,
der alte Jakob in der Küche. Und bestimmt noch ein Dutzend Menschen im Ort. Er war
zwischen ihnen herumgegangen und hatte nur gespürt, dass er so vieles nicht wusste.
Dieses Gefühl war noch immer da, und trotzdem war er einen Schritt vorangekommen.
Weil die Frau ihm gegenüber sich nicht hinter Floskeln verbarrikadiert hatte.
    »Sie waren
sehr mutig, Frau Gleinegg!«
    Sie lächelte,
sah erschöpft und fast zufrieden aus, als ob sie durch das Reden so etwas wie Frieden
gefunden hätte. »Aber es ist genug für heute.«
    »Das denke
ich auch. Wir stehen in Ihrer Schuld. Danke für das Gespräch. Und für den Grappa!«
    »Noch einen
Schluck?«
    »Vielen
Dank, aber wir müssen zurück ins Präsidium.«
    Sie erhoben
sich alle drei, Leo fühlte sich ganz benommen. Das kam davon, wenn man Schnaps auf
leeren Magen trank.
    Diesmal
reichte ihnen Henriette Gleinegg die Hand zum Abschied, sie machten beide ihren
Diener und fuhren im Aufzug ins Erdgeschoss hinunter. Der frische Wind von der Salzach
her war wie ein prickelnder Stromstoß, Leo riskierte hinter Pestallozzi einen ganz
kleinen Luftsprung.
    »Weißt du
was, Leo?«, fragte Pestallozzi über die Schulter hinweg. »Wir drehen noch eine Runde
am Ufer. Bis zur Nonntaler Kirche und zurück. Nach so einem Gespräch muss man den
Kopf und den Körper durchlüften.«
    Sie marschierten
fast im Laufschritt am Fluss entlang, das Gehen tat unendlich gut. Leo spürte, wie
sich sein Rücken entkrampfte. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr die Spannung
beim Zuhören auch seinen Körper ergriffen hatte. Die Geschichte von der Gleinegg
war aber auch unglaublich gewesen. Die hatte ja geklungen wie ein Stephen-King-Thriller.
Was der Chef wohl darüber dachte? Leo fasste sich ein Herz und unterbrach den Chef
beim Grübeln, obwohl der

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