Blutiger Klee: Roman (German Edition)
diesem Opfer anklingen lassen. Sie hatte
ihm zugehört, ohne auch nur einen Augenblick lang verständnislos oder gar empört
dreinzuschauen. Denn das hätte er sofort bemerkt, auf Lisas Gesicht wechselten die
Empfindungen wie Wolken am Sommerhimmel. Als Ermittlerin wäre sie eine Katastrophe
gewesen, bei den Toten war sie besser aufgehoben. Einen Moment lang hatte er eine
Vorstellung, wie sie auf die nackten Körper herabblickte, traurig und neugierig
zugleich. Dann saß er wieder der Lisa im Café gegenüber, sie leckte sich gerade
die letzten zuckrigen Krümel von den Fingern ab, dann beugte sie sich mit Verschwörermiene
über den wackeligen Bartisch.
»Kennst
du das auch, Artur? Diesen Gusto auf eine Zigarette, nur weil das Rauchen schon
überall verboten ist?«
Er musste
grinsen, endlich wieder einmal, nach gefühlten 100 Jahren. »Kenn ich. Absolut. Ich
weiß genau, was du meinst. Es ist, als ob man …«
»… als ob
man wieder vor der Lade stehen würde, wo das Christkind die Weihnachtsgeschenke
versteckt gehabt hat! Kannst du dich noch erinnern? So war das doch früher!«
Sie kicherte,
er konnte sich gut das kleine Mädchen vorstellen, das um die verbotene Lade herumstrich.
Aber nie hineingeschaut hatte, niemals. Das konnte er sich von Lisa einfach
nicht vorstellen. Sie war so … so proper, so integer. Neben einer wie ihr wäre er
gerne in der Schule gesessen. Und nicht neben der Waltraud, die ihn immer …
»Um den
Fall vom Gleinegg beneide ich dich wirklich nicht«, sagte Lisa. Sie war wieder ernst
geworden. »Keiner tut das. Das muss ja ein richtiges Minenfeld sein. Ich habe auch
viel darüber nachgedacht, er ist ja bei mir auf dem Tisch gelegen. Kein Gesicht,
das von einem glücklichen Leben erzählt. Weißt du, Artur, ich will nicht für den
Gleinegg sprechen, ganz bestimmt nicht. Der muss ein richtiges Scheusal gewesen
sein, ehrlich. Aber ich denke mir, dass er bestimmt auch ein schwer traumatisierter
Mensch war. Ein Kind, das selber eine eiskalte Jugend erlebt hat. Ich meine, stell
dir das doch mal vor. Du kommst irgendwann nach dem Ersten Weltkrieg zur Welt, in
so einem Schloss auf dem Land mit dem ganzen Brimborium, das damals noch geherrscht
hat. Ich habe einmal ein Buch über die Kindheit von den Habsburgern gelesen. Und
ich sage dir, das war einfach Kindesmisshandlung. Den Kronprinz Rudolf, den Sohn
von der Sisi, den hat sein Erzieher als ganz kleinen Buben in der Nacht in Wildschweingehege
gesperrt, damit er abgehärtet wird. Wir wissen ja nicht, was dem Gleinegg alles
widerfahren ist. Aber stell dir das doch mal vor, diese ganzen düsteren Geschichten
über irgend so ein Familiengeheimnis. Und dann bekommt deine Schwester, deine Zwillingsschwester,
eine Krankheit, über die wahrscheinlich nicht einmal gesprochen werden darf, und
wird weggesperrt in so eine Art Damenstift, denn etwas anderes als wegsperren war
das nicht. Einfach unfassbar, wenn man sich das vorstellt! Dann hat er offenbar
jahrzehntelang gezögert, eine Familie zu gründen, auch wenn ihm ganz bestimmt die
Beweggründe dafür gar nicht bewusst waren. Dann kommt nach vier Töchtern, die wegen
so einem völlig antiquierten Familiengesetz nicht einmal erbberechtigt sind, endlich
der Sohn, der Stammhalter. Den versucht er fürs Leben fit zu machen, auf seine ganz
verkorkste Art eben, mit dem Mitnehmen zur Jagd und lauter solchen Sachen. Dann
kriegt die älteste Tochter eine Jugendakne, denn etwas anderes war das bestimmt
nicht, aber für ihren Vater muss das der absolute Horror gewesen sein. Na ja, und
das alles hat ihn bestimmt nicht freundlicher gemacht. Ich meine eben … ach was.
Entschuldige, das war eine lange Rede, ich weiß auch nicht …«
Sie schwieg,
dann holte sie noch einmal tief Luft. »Ich wollte nur sagen, dass viel zu wenige
die Kraft haben, den Kreislauf aus Lieblosigkeit, die ihnen selbst widerfahren ist,
zu durchbrechen. Aber das weißt du ja, Artur. Wer sollte das besser wissen als du.
Entschuldige bitte meine Belehrungen.«
Sie sah
verlegen auf die Tischplatte und fegte ein paar Krümel zusammen. Pestallozzi wäre
am liebsten aufgestanden und um den Tisch herumgegangen und hätte sie an sich gedrückt.
So gut hatten ihm ihre Worte getan. Endlich hatte der alte Gleinegg jemanden gefunden,
der ihn aus einem völlig neuen Blickwinkel betrachtete. Lisa hatte recht. Der alte
Mann war ein arrogantes selbstgerechtes Scheusal gewesen. Aber er war nicht als
Scheusal auf die Welt gekommen.
»Danke«,
sagte
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