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Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Klee: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Faro
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sicher
schon. Und die alte Geschichte vom Pilgerweg brauche ich Ihnen auch nicht zu wiederholen.
Kann es sein, dass Ihr Vater am Schluss bereut hat?«
    Sie zuckte
mit den Achseln. Egal, zu spät. Falsche Frage.
    »Was war
mit Charlotte?«
    Leo knackte
mit den Knöcheln, nur ein einziges Mal, er konnte einfach nicht anders. Zum Glück
nahm keiner Notiz davon, obwohl es vollkommen still im Raum war. Genial, der Chef.
Wie kamen ihm solche Fragen nur in den Sinn? Die er dann knallhart stellte, mit
dieser höflichen Stimme. Das musste sich anfühlen wie … wie ein Messer. Wie ein
Messer im Fleisch.
    Henriette
Gleinegg stand auf und ging zur Küchenzeile. Sie öffnete eine Schranktür in Kopfhöhe
und nahm drei Gläser heraus und eine Flasche mit wasserklarer Flüssigkeit. Dann
kam sie wieder an den Tisch zurück, die Flasche trug sie unter den Arm geklemmt.
Sie stellte alles auf den Tisch und zog den Korken aus der Flasche.
    »Wenn Sie
etwas von der Charlotte hören wollen, dann müssen Sie einen Grappa mittrinken.«
    Es war ganz
eindeutig keine Frage, sondern eine Feststellung. Ein Kuhhandel. Ging man so mit
Beamten der Mordkommission um? Leo linste zum Chef, aber der schien völlig ungerührt.
Henriette Gleinegg goss die drei Gläser voll. Sie griff nach dem nächststehenden
und hielt es ihnen entgegen wie beim Zuprosten, dann legte sie den Kopf in den Nacken
und leerte es mit einem Ruck. Sie stellte das Glas wieder auf den Tisch und zündete
sich eine Zigarette an. Ruhig und gelassen.
    »Wenn Sie
etwas über meine Schwester Charlotte und ihren Tod erfahren möchten, dann muss ich
zuerst von meiner Tante Gisela erzählen«, sagte Henriette Gleinegg.
    Bitte nicht,
dachte Leo. Jetzt kommt die Familiengeschichte von dieser ganzen Sippschaft. Und
ich hab natürlich wieder vergessen, einen Müsliriegel einzustecken. Ob ich mir einen
Schluck vom Grappa genehmigen kann? Der Chef hat jedenfalls noch keinen Tropfen
getrunken.
    »Ich habe
meine Tante Gisela nur einmal gesehen, als Kind. Sie war die Zwillingsschwester
meines Vaters.« Henriette Gleinegg schwieg, dann setzte sie von Neuem an. »Eigentlich
muss ich viel früher beginnen. Auch wenn es sich in Ihren Ohren völlig abstrus anhören
wird. Aber es hat immer diese Geschichten um unsere Familie gegeben. Und um diesen
Fluch. Dass wir verfolgt werden wegen einem Unrecht, das vor Jahrhunderten von einem
Gleinegg begangen worden ist. Und dass seither diese Krankheit in unserer Familie
vererbt wird. Sie tritt nicht in jeder Generation auf, aber sie kommt immer wieder
zurück. Wie die Lepra verwüstet sie den Körper. Ich weiß, das klingt vollkommen
lächerlich. Aber ich habe meine Tante gesehen. Sie ist damals aus ihrem Stift auf
Besuch gekommen, für ein Begräbnis in der Familie. Uns Kindern hat man strengstens
verboten, die Tante Gisela anzusprechen. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und hat
schwarze Spitzenhandschuhe getragen, das war ja noch normal zu so einem Anlass.
Aber die Tante Gisela hat auch das Gesicht vollkommen verschleiert gehabt und ist
den ganzen Tag auf ihrem Zimmer geblieben, sogar das Essen hat ihr die Maridi hinaufgetragen.
Wir waren natürlich furchtbar neugierig. Und dann habe ich sie am Tag ihrer Abreise
erwischt, sie ist auf der Galerie im ersten Stock gestanden und hat in die Halle
hinuntergeschaut. Es war das letzte Mal, dass sie in ihrem Elternhaus gewesen ist,
im Jahr darauf ist sie in dem Damenstift, in dem sie seit ihrer Jugend gelebt hatte,
gestorben. Sie ist dagestanden und hat den Schleier über ihren Hut zurückgeschlagen
gehabt. Und ich habe ihr Gesicht gesehen. Die Haut war wie vernarbt, ihre Augenlider
waren ganz entzündet. Aber am schlimmsten war ihre Nase. Die war wie weggefressen,
ich kann es nicht anders beschreiben. Die Nasenlöcher waren wie Krater. Es muss
entsetzlich schmerzhaft gewesen sein, darüber einen Schleier zu tragen, ich mag
es mir gar nicht vorstellen. Ich bin hinter der Tür zur Dienstbotenstiege gestanden
und habe sie nur angestarrt, sie hat mich zum Glück nicht bemerkt. Dann hat sie
wieder den Schleier über ihr Gesicht gezogen und ist hinuntergegangen und weggefahren.
Ich habe sie nie wiedergesehen. Und ich habe keinem Menschen davon erzählt. Nur
der Charlotte, die war ein Jahr älter als ich. Die Moni war noch zu klein und die
Helene und der Raffi waren noch gar nicht auf der Welt.«
    Sie zündete
sich eine Zigarette an. Weiter, dachte Leo. Erzähl weiter.
    »Ein paar
Jahre später hat die Charlotte dann diesen

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