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Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Klee: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Faro
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gottlob heil zu Hause angekommen. Meine Schwester Monika hat mich noch angerufen.«
    Sie zündete
sich eine neue Zigarette an.
    »Sie waren
noch nicht zu Hause, seitdem es passiert ist, nicht wahr? Ich meine, in Ihrem Elternhaus?«
    Sie schüttelte
bloß den Kopf, die Zigarette qualmte vor sich hin. Pestallozzi sah sich in dem hellen,
luftigen Raum um. Wer so wohnte, den zog es bestimmt nicht in ein düsteres Anwesen
am Waldrand, auch wenn es das Haus der Kindheit war. Oder vielleicht gerade deshalb.
    »Frau Gleinegg«,
sagte Pestallozzi plötzlich, als ob er einen Entschluss gefasst hätte. »Sie müssen
uns helfen. Sie müssen mir helfen, Ihre Welt zu verstehen. Was war Ihr Vater für
ein Mann? Wie ist das Verhältnis zu seinen Kindern gewesen? Zu seinem Sohn? Wer
wird das Erbe antreten? Erzählen Sie mir einfach von Ihrer Familie.«
    Er hatte
sich immer weiter nach vorn gebeugt beim Sprechen, aber die Frau war nicht zurückgewichen,
bis ihre Gesichter über dem Tisch nur mehr eine Handbreit voneinander entfernt waren.
Sie starrten sich einen Moment lang schweigend an, dann endlich wich die Spannung.
Leo hätte vor Erleichterung beinahe wieder mit den Knöcheln geknackt.
    »Also gut,
fangen wir beim Erbe an«, sagte Henriette Gleinegg und lehnte sich wieder zurück.
»Das ist am unverfänglichsten. Mein Bruder Raffael wird drei Viertel von allem bekommen,
meine Schwestern Helene, Monika und ich teilen uns ein Viertel. Das ist so vorgesehen.«
    Paff, dachte
Leo. Emanzengeschwätz war ja wirklich das Hinterallerletzte, was ein Mann brauchen
konnte. Aber solch ein Testament ließ sogar ihn schlucken. Voll die Härte! Und diese
Gleinegg’sche redete so gelassen davon, als ob sie das nicht zur Weißglut bringen
würde. Na, ihn und den Chef würde sie damit nicht täuschen! In jedem Fall ein nachvollziehbares
Tatmotiv …
    »Sie sprechen
sehr gelassen von dieser, nun ja, ungewöhnlichen Aufteilung«, sagte der Chef gerade.
    Die Gleinegg
zuckte mit den Achseln. »Es ist immer noch genug für alle da. Und außerdem, darauf
waren wir von Kindheit an vorbereitet. Sie wollten doch unsere Welt näher kennenlernen,
nicht wahr, Herr Pestallozzi? Also, in unseren Kreisen herrscht noch immer das finsterste
Mittelalter, was die sogenannte Gleichberechtigung angeht. Ein Sohn ist alles, eine
Tochter nichts. Zum Glück ist nach uns vier Schwestern der Raffi gekommen, wer weiß,
wie lange meine Mutter es sonst noch hätte versuchen müssen.«
    Sie lachte
heiser, das Lachen ging in ein Husten über, das in Leos Ohren ziemlich übel klang.
Henriette Gleinegg räusperte sich, dann zündete sie eine neue Zigarette an. Offenbar
wollte sie der irdischen Gerechtigkeit entgehen.
    »Jedenfalls
bin ich dem Raffi sein Erbe nicht neidig, das können Sie mir glauben. Der einzige
Sohn meines Vaters zu sein, das war eine bittere Sache.«
    Sie deutete
mit der Zigarette zu den Geweihen an der Wand, an denen so lässig die Strohhüte
hingen.
    »Mein Vater
war ein begeisterter Jäger, aber das wissen Sie ja schon. Das heißt, begeistert
ist eigentlich eine zu schwache Beschreibung. Es war seine einzige Passion, seine
einzige Leidenschaft. Nun ja, vielleicht nicht ganz die einzige.«
    Sie nahm
einen so tiefen Zug, als ob es ihr letzter wäre.
    »Und natürlich
wollte er aus seinem Sohn einen Jäger machen. Er hat den Raffi schon auf die Pirsch
mitgenommen, da war der noch nicht einmal sechs Jahre alt. Ausgerechnet den Raffi,
der jeden Schneck am Weg aufgehoben und ins Gras getragen hat.«
    Sie saß
da und schien zugleich weit weg zu sein. Dann dämpfte sie die Zigarette aus, mit
einer Bewegung, als ob sie etwas auslöschen wollte, nicht nur die Glut. Auf der
Terrasse blätterte der Wind die Buchseiten um.
    »Zu der
Zeit hat der Raffi angefangen, wieder ins Bett zu machen. Die Maridi, unsere Köchin,
hat alte Plastiktischdecken zusammengeschnitten und auf seine Matratze gelegt, aber
irgendwann ist die Sache natürlich herausgekommen, und unser Vater hat davon erfahren.
Wir haben alle antreten müssen vor dem Abendessen, bei dem durften Kinder ja sonst
nie dabei sein. Und dann hat er dem Raffi ins Gesicht geschlagen und ihm gesagt,
dass er sich schämt für einen solchen Sohn.«
    Keiner sprach
ein Wort. Endlich zündete sich Henriette Gleinegg wieder eine Zigarette an, Leo
hätte ihr beinahe Feuer gegeben. Der Chef drehte seine leere Tasse zwischen den
Händen.
    »Ihr Vater
hat Linsen in den Schuhen gehabt, als er getötet wurde. Aber das wissen Sie ja

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