Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
Gleichgewicht.
»Die Polizei ist schon unterwegs«, log er.
»Im Keller«, sagte Mischa.
Hinter der Wohnzimmertür überschlug sich der Hund fast vor Erregung.
»Geh voran!«, sagte Irina, öffnete die Wohnungstür und übergab die Waffe an Fabian. Sie traten ins Treppenhaus und stiegen langsam hinunter. Er hielt dem Russen die Pistole an den ausrasierten Nacken und hoffte, dass sich die Wohnungstüren der unteren Stockwerke nicht öffnen würden.
»Hure!«, sagte Mischa zu den Treppenstufen.
»Kindermörder!«, sagte Irina.
»Du weißt ja gar nichts«, gab er verbissen zurück. »Die Kinder mussten verschwinden. Oder willst du, dass sie den Laden hochgehen lassen und uns mit?«
Im Erdgeschoss öffnete Irina die Kellertür und drehte den altmodischen Lichtschalter. Eine blasse Funzel erhellte eine Treppe und darunter einen Gang, von dem mehrere Stahltüren abzweigten.
»Ich hoffe, du hast den Schlüssel«, sagte Fabian und putzte sich beiläufig mit dem Ärmel über die blutige Nase.
»Weiter unten«, sagte Mischa grimmig. Am Ende des Gangs führte eine Tür zum Tiefkeller. Die Stufen waren feucht und das Licht nichts weiter als ein glimmender Draht mit einer schwankenden Birne daran. Es roch muffig nach saurem, ausgelaufenem Wein. Hier unten, tief unter der Erde, hatten die Bewohner des Hauses sicher in den Bombennächten des zweiten Weltkriegs Schutz gesucht. Vom Kellerflur zweigten Verschläge ab, die mit Holztüren gesichert waren. Dahinter standen Regale voller verstaubtem Gerümpel, das die Bewohner des Hauses seit Jahrzehnten vergessen hatten. Matratzen, ausgemusterte Bettgestelle, Resopalregale, alles schien schon länger vor sich hin zu modern und vergeblich auf den Sperrmüll zu warten. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Spinnweben hingen an der Decke.
»Wo sind sie?« Irina sah sich suchend um. Mischa ging ihnen voraus und schwieg. Vor dem letzten Verschlag blieb er stehen.
Hinter der Brettertür sah Fabian im Zwielicht einen Haufen alter Jutesäcke. Eng aneinandergedrückt lagen drei Kinder darauf, die sich langsam regten. Sie hatten geschlafen, setzten sich verwirrt auf und rieben sich die Augen. Ihre Gesichter waren tränenverschmiert. Das Mädchen aus dem »Fallen Angel« stellte sich wacklig auf die Beine, griff nach den Streben der Tür und sagte etwas auf Russisch, auf das Irina leise antwortete. Fabian dachte an den leeren Pizzakarton in der Küche. Mischa hatte die Kinder ohne Essen im Dunkeln eingeschlossen, die einzige Wasserflasche rollte leer über den Boden.
Die Auftraggeber hatten sich für ihr Bett möglichst große Vielfalt und Jugend ausbedungen. Das dunkelhaarige Mädchen aus dem Bordellzimmer war mit ungefähr elf Jahren die Größte der Gruppe. Die beiden anderen konnten nicht älter als sieben oder acht sein. Unwillkürlich musste er an seine kleine Nichte denken, und in seinem Magen bildete sich ein Klumpen. Die Kleinste hatte strähnige blonde Haare und lutschte am Daumen, die andere sah asiatisch aus und hielt eine nackte Barbiepuppe in der Hand. Beide trugen Schlafanzüge mit Bären und waren barfüßig. Sie hatten gefroren und Durst gelitten, Angst gehabt und im Dunkeln gesessen, ohne zu wissen, wie lange ihr Leiden dauern würde.
»Warum?«, fragte er.
Mischa schüttelte den Kopf. »Sie sind schon als Nichts auf die Welt gekommen. Niemand fragt nach ihnen. Die ideale Beute, verstehst du, Bulle? Solche werden auf der ganzen Welt verschachert, und oft genug von ihren eigenen Eltern.« Da war ein Abgrund aus Entsetzen, in den Fabian nicht blicken wollte.
»Mach die Tür auf!«, befahl er.
Mischa holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und entfernte das Schloss. Noch ganz ungläubig drückte das älteste Mädchen die Tür auf und trat durch den Spalt. Nacheinander folgten ihr die beiden jüngeren und musterten Fabian misstrauisch, der Mischa noch immer mit der Pistole in Schach hielt. Die Älteste sagte etwas auf Russisch. Irina übersetzte und schüttelte mit einem bitteren Lachen den Kopf. »Weißt du, was die Kinder am Übelsten fanden. Dass sie im Dunkeln nicht wussten, ob ihnen eine Spinne übers Gesicht läuft.«
Der Knoten aus Traurigkeit in Fabians Magen begann zu schmerzen. Er dirigierte Mischa die Treppe hinauf in den Hof.
»Was hast du mit ihnen vorgehabt?«, fragte er den Türsteher. Mischas Gesicht verschloss sich, und Fabian hatte plötzlich große Lust abzudrücken. Sicherheitshalber übergab er Irina die Pistole und wählte die Nummer der
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