Blutiger Segen: Der 1. SEAN DOYLE Thriller (German Edition)
seines Freundes ermutigt, trat Carl an seine Seite. Sie bereiteten sich darauf vor, gemeinsam hindurchzugehen.
Da schwang die Tür plötzlich auf, und ein besonders heller Sonnenstrahl zerteilte die Dunkelheit.
Und in diesem Augenblick sahen sie beide die Gestalt.
Die Gestalt, die auf sie zukam.
4
Er hatte die Geräusche in der Kirche gehört und sich gefragt, wer kam, um ihn bei seiner Arbeit zu stören.
Jetzt beobachtete Mark Channing, wie zwei kleine Jungen schreiend aus dem Gebäude rannten.
Er blieb einen Moment stehen und kratzte sich am Kinn, überlegte, warum er die Besucher so erschreckt hatte. Hatten sie seinen Wagen nicht bemerkt, der an der Westseite der Kirche parkte? Offenbar nicht, folgerte er, als er zusah, wie sich die beiden Gestalten durch die Tür zwängten und in den Sonnenschein dahinter flüchteten. Die Kirche lag wieder still da, so wie Channing es mochte. Er lächelte in sich hinein, kehrte in den Altarraum zurück und zog die Tür hinter sich zu.
Zwei batteriebetriebene Lampen sonderten einen kalten weißen Schein ab, der alles in tiefe Schatten hüllte. Channing goss sich einen Becher Tee aus der Thermoskanne in seiner Tragetasche ein und trank einen Schluck, während er sich umschaute.
Links von ihm verschwand die Treppe nach oben zum Glockenturm in einer noch erstickenderen Dunkelheit. Auf der rechten Seite befand sich der Altar mit den beiden Lampen. Besser gesagt: der ehemalige Altar.
Er bestand größtenteils aus einer flachen Steinplatte, glatt wie Marmor und relativ unversehrt. Er hatte mehrere seiner Notizblöcke auf der Fläche ausgebreitet. Ein Paket mit Sandwiches und die Überreste einer Pastete, die er vor etwa einer halben Stunde verspeist hatte, lagen ebenfalls wie Opfergaben für eine kulinarische Gottheit darauf.
Die Fenster an beiden Seiten des Altarraums fehlten ebenso wie im restlichen Gebäude. Man hatte die Öffnungen genau wie im Kirchenschiff vernagelt.
Channings Arbeit in der Kirche hatte zutage gefördert, dass jemand das Mauerwerk rings um die Fenster weggemeißelt hatte. Das deutete darauf hin, dass man die Fenster gezielt entfernt und abtransportiert hatte. Mitsamt den Rahmen und allem, was dazugehörte. Ihr Fehlen war nicht auf Vandalismus zurückzuführen, sondern auf sorgfältige, gezielte Planung.
Eine Planung, die auf Furcht und Aberglauben beruhte.
Channing kannte die Kirche und ihre Umgebung sehr gut. Er kannte sie vom Hörensagen. Anhand dessen, was er darüber gelesen und selbst geschrieben hatte. Aber jetzt hielt er sich zum ersten Mal selbst darin auf.
Vor fünf Tagen war er in Frankreich eingetroffen, und seit drei Tagen arbeitete er in der Kirche. Er hatte niemanden um Erlaubnis fragen müssen, das Gebäude betreten zu dürfen. Keiner der Bewohner in den umliegenden Ortschaften und Dörfern schien sich daran zu stören, dass er dort arbeiten wollte, und Channing hatte nicht herausgefunden, wem das Land gehörte, auf dem das alte Bauwerk stand. Die Kirche kündete als eines der wenigen verbliebenen Zeugnisse von der Tatsache, dass in diesem Teil der Bretagne irgendwann einmal die reichsten Bewohner der Provinz gelebt hatten.
Doch das lag schon über 400 Jahre zurück.
Channing hatte die Kirche aus einer ganzen Reihe von Gründen aufgesucht. Ihm stand noch ein Resturlaub von seiner Anstellung als leitender Dozent am Balliol College zu, also hatte er die Gelegenheit genutzt, in der Bretagne auf andere Gedanken zu kommen. Das Hauptziel seiner Reise bestand allerdings darin, sich die Kirche anzusehen, von der er bisher nur gelesen hatte.
Ihren früheren Besitzer kannte er dagegen ungleich besser, weil er vor zwei Jahren eine ausführliche Abhandlung über ihn verfasst hatte. Der Beitrag war in einem Sammelband bei einem der größten Verlage des Landes erschienen. An den Titel des Buches konnte er sich nicht mehr erinnern (obwohl er es als oberflächlich und schlecht recherchiert in Erinnerung hatte, abgesehen von seinem eigenen Beitrag natürlich). Wohl jedoch an den Namen des Mannes aus seinem Beitrag.
Der ehemalige Besitzer dieses feuchten verlassenen Bauwerks hieß Gilles de Rais.
Im 15. Jahrhundert hatte man de Rais der Ritualmorde an über 200 Kindern für schuldig befunden. Viele davon hatten sich in der Kirche ereignet, in der Channing jetzt stand. Sie bildete lediglich einen kleinen Teil von de Rais’ ausgedehntem Anwesen, das die Anwohner als Machecoul kannten. Der Mann hatte in seinem Geburtsland als Held gegolten. Für
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