Blutiger Spessart
Holzbrüstung, dass er jederzeit schnell und lautlos zugreifen konnte. Langsam lehnte er sich zurück und bereitete sich auf eine längere Wartezeit vor. Bis zum Einbruch der Nacht war noch ungefähr eine Stunde hin. Sonst pflegte er in solchen Fällen die Wartezeit mit einem kleinen Nickerchen zu überbrücken. Erfahrungsgemäß ließen sich die Schweine Zeit. Wenn die Rotte dann im Anmarsch war, machte sie in der Regel im Wald so viel Krach, dass er sofort hellwach sein würde.
Heute fand er jedoch nicht gleich die nötige Entspannung. Immer wieder erschien vor seinem geistigen Auge das Bild des zerstörten und ausgebrannten Gefangenentransporters. Man hatte die Leichen vor Ort gar nicht bergen können, weil sie total verbrannt und teilweise mit den Wrackteilen des Fahrzeugs verschmolzen waren. Später wurde der Transporter abgeschleppt, damit die Leichenbergung in der Werkstatt der Polizei vorgenommen werden konnte.
Kerner wusste von seinen Kampfeinsätzen bei der Bundeswehr, wie Menschen aussahen, die in Fahrzeugen verbrannt waren. Oftmals war eine DNA-Analyse notwendig gewesen, um die Identität eines Opfers sicher feststellen zu können.
Kerner war als Fallschirmspringer und Einzelkämpfer ausgebildet und hatte als Hauptmann einige Zeit einen Spezialtrupp von acht Elitesoldaten befehligt. Mit seinen Männern agierte er während der
Operation Südflanke
vom Persischen Golf ausgehend an Land hinter den Linien des Feindes. Saddam Hussein hatte Kuwait überfallen, und zwei deutsche Diplomaten waren verschwunden. Er wurde mit seinem Trupp von einem Hubschrauber im Grenzgebiet zwischen Kuwait und dem Irak abgesetzt und schlug sich mit seinen Männern zu einem Lager der irakischen Armee durch, wohin man diese Diplomaten verschleppt hatte. Ihr Auftrag lautete: Befreiung mit allen Mitteln. Dieser Befehl wurde ausgeführt. Dabei mussten sie zur Ablenkung zwei irakische Militärfahrzeuge in Brand setzten, nachdem sie die Fahrer mit Messern getötet hatten. Ein geheimer Einsatz, der niemals offiziell bekannt geworden war.
Kerner atmete die kühle Nachtluft ein und bemühte sich, die Bilder aus der Vergangenheit in den Hintergrund zu drängen. Das war alles schon viele Jahre her, doch die gestrigen Ereignisse am Strafjustizzentrum, die eine frappierende Ähnlichkeit mit einer Kriegshandlung hatten, ließen die Erinnerungen wieder heftig aufleben.
Als er einen Blick nach rechts zum Waldrand hin warf, entdeckte er ein Reh, das gemächlich auf die Wiese zog, um dort zu äsen.
10
Ricardo Emolino verkörperte das, was man gemeinhin als den »typischen Italiener« bezeichnete. Obwohl er in Deutschland geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen war, hatten die Gene seiner sizilianischen Vorfahren voll durchgeschlagen. Schwarze Haare, dunkler Teint, schmale Hüften und dunkelbraune Augen. Eingeschlossen das explosive Temperament seiner Väter. Zudem ein gewisser Hang zur Selbstdarstellung und damit zu Luxus und teuren Klamotten. Ein weiteres Ergebnis seiner Herkunft war die Tatsache, dass er an keinem wohlgeformten Frauenhintern vorbeikam, ohne zumindest seinen Kopf zu verdrehen. Als Folge dieser Einstellung war Ricardo Emolino in der ganzen näheren und weiteren Umgebung von Gemünden als Weiberheld bekannt und berüchtigt. Wenn sein Sportcabriolet, zurzeit ein roter Ferrari mit 490 PS, der fast so viel wie ein kleines Reihenhaus gekostet hatte, auf den Festplätzen der umliegenden Gemeinden auftauchte, bekamen die jungen Burschen schmale Augen, und so manche Faust wurde geballt.
Die Frauenwelt reagierte allerdings nicht so ablehnend. Ricardo hatte durchaus Charme, und dank seiner schokoladenbraunen Augen gelang es ihm immer wieder, Frauen zu einer kleinen Spritztour in seinen Luxusschlitten einzuladen. Diese endete dann häufig irgendwo in einem stillen Winkel in der Horizontalen der feudalen Liegesitze.
Als er am späten Nachmittag auf dem Sommerfest des Schützenvereins Partenstein auftauchte, das der Verein in einem ungefähr fünf Kilometer vom Ort in Richtung Wiesthal gelegenen Steinbruch abhielt, und die anwesende Weiblichkeit musterte, bekamen seine Augen einen gierigen Glanz. Das Fest war, auch was dieses Kriterium betraf, ausgesprochen gut besucht. Ein weites Spielfeld für einen jungen Draufgänger wie ihn.
Ricardo holte sich in einem Zelt, in dem eine Theke aufgebaut war, ein Bier. Anschließend schlenderte er mit dem Krug in der Hand über den Festplatz. Seine Augen flogen dabei wieselflink über die
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