Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
sich um einen Teil des geschmiedeten Geländers aus dem Inneren des Turmes.
Mogda musste seine Erinnerung an den seltsamen Oger korrigieren. Er war noch größer und dicker als die Bilder, die er von ihm in seinem Kopf hatte. Die wulstigen Augenbrauen und das vorstehende Kinn verliehen ihm ein gewalttätiges Aussehen, das man Ogern aber ohnehin nachsagte. Sah man Gnunt, so konnte man meinen, dass er der Ursprung dieser Behauptung war. Erst wenn man ihn einen Augenblick lang beobachtete, erkannte man, dass in ihm ein Kind schlummerte, wenn auch ein riesiges.
Mogda beschloss, seinen Artgenossen nicht länger zu belauern, sondern auf sich aufmerksam zu machen. Er ließ Usils Leichnam und das Schwein zurück im Dickicht, dann trat er aus seinem Versteck hervor und schlenderte auf Gnunt zu.
Es dauerte nicht lange, bis Gnunt Notiz von ihm nahm. Im hohen Bogen warf er die Eisenstange von sich und riss die Arme in die Höhe.
»Mogda, Gnunt lange warten auf Freund. Endlich gekommen. Tunfell hat gefagt, du werden kommen hier.«
Anscheinend erinnerte sich Gnunt noch an seinen alten Weggefährten. Trotzdem war die aufbrausende Freude in dem Koloss etwas beängstigend. Mogda löste vorsichtshalber die Schlaufe, die den Griff des Runenschwertes sicherte. Gnunt kam auf ihn zugestürmt wie ein junges Fohlen, das zum ersten Mal die Weite einer Steppe erkundete. Jedoch besaß der Oger das Gewicht eines Loraster Kaltblutes - aufgezäumt, bepackt und mit Reitersmann.
Mogda blieb stehen, als er sah, dass Gnunt sein Tempo nicht verringerte. Bewaffnet oder unbewaffnet machte schon gar keinen Unterschied mehr, Gnunt würde ihn einfach niederwalzen. Dazu kam es jedoch nicht, denn Gnunt packte Mogda, riss ihn vom Boden hoch und drückte ihn an sich. Mogda erinnerte sich wieder an die damaligen Begrüßungs- und Abschiedsszenen mit dem Koloss, leider zu spät. Jetzt jedoch würden ihn seine Prellungen und die gestauchten Rippen noch eine ganze Weile daran erinnern.
»Nun wir endlich gehen und erfüllen Fickfal«, rief Gnunt, während er Mogda langsam aus seinen Fängen entließ.
Mogda fiel auf, dass sich Gnunts Aussprache verändert hatte. Aus dem einstigen Kauderwelsch war plötzlich etwas geworden, das nicht weit von dem entfernt war, was andere Oger von sich gaben. Einige Laute bereiteten ihm zwar immer noch Schwierigkeiten, aber man konnte mittlerweile verstehen, was er sagte.
»Du redest anders«, war Mogdas erste Reaktion. Er erinnerte sich noch genau an seine eigene Wandlung, die er vor Jahren an diesem Ort durchgemacht hatte. War Gnunt vielleicht etwas Ähnliches passiert?
Stolz präsentierte Gnunt seine ausgeschlagenen Vorderzähne.
»Dach von Turm auf Gnunt gefallen«, erklärte er.
Mogda war irgendwie erleichtert über diese einfache Erklärung. Auch wenn es ihm einige Vorteile gebracht hatte, intelligenter zu sein als alle anderen seiner Art, gönnte er es niemandem, sein Schicksal zu teilen, schon gar nicht einem Oger. Er hatte immer das Gefühl, seine Gedanken gehörten jemand anderem. Außerdem machte es ihn zu einem Aussätzigen seines Volkes, das ohnehin keiner mochte. Er verstand nur zu gut, was die Menschen meinten, wenn sie sagten, keiner sei einsamer als der Unschuldige im Kerker.
»Gehen Wafferfahn«, rief Gnunt aus.
Jetzt erst verstand Mogda, was Gnunt von ihm wollte. »Gnunt, ich bin nicht gekommen, um dich mit auf Reisen zu nehmen. Das Schicksal sollen diesmal andere erfüllen. Ich will dich nur warnen. Fremde werden kommen; sie suchen nach dem schwarzen Kristallsplitter. Sie werden versuchen, dich zu töten.«
Gnunt schien überhaupt nicht zu begreifen, was Mogda versuchte, ihm da klarzumachen. Voller Euphorie zerrte er an seinem Freund und zog ihn Richtung Zaubererturm.
»Gnunt warten fei Jahre. Nun Mogda endlich da.«
Mogda ließ die Prozedur über sich ergehen.
Gnunt zeigte ihm sein Reich. Das Dach im Turm hatte er mit Baumstämmen wieder auf halber Höhe abgestützt und nutzte den Unterstand so, um sich vor Regen und Kälte zu schützen. Die Bücher und sonstige Einrichtungsgegenstände waren mittlerweile von Fremden geplündert worden. Gnunt hatte sich in der Mitte des Turmes mit Steinen eine Feuerstelle angelegt und einen Schlafplatz eingerichtet. Dies war zwar nicht die übliche Behausung eines Ogers, aber sein Freund war auch nicht wie andere Oger, genau wie er selbst.
Noch gut erinnerte sich Mogda daran, wie er den Winter hier verbracht hatte, zusammen mit Usil, den er damals noch gefangen
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