Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
Abschreckung hängen lassen. Er hat die Grenze zu seinem Reich damit markiert, wie Wölfe es mit ihrem Urin tun. Es gab viele von diesen Bäumen, doch die meisten wurden nach seinem Tod gefällt. Dieser hier ist noch übrig.«
»Das ist nur eine Geschichte«, erklärte Hagrim.
»Das werden wir bald herausfinden«, sagte Cindiel. »Was weißt du alles über den Tod?«
Hagrim schaute sie entgeistert an. »Ich hoffe, dass er noch lange auf sich warten lässt.«
Natürlich wollte sie etwas anderes von ihm hören, aber Hagrim brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. Er war stolz darauf, einer der wenigen Menschen zu sein, die nachdenken konnten, während aus ihrem Mund Belanglosigkeiten flossen.
»Die Leute erzählen sich«, fuhr er fort, »man sehe eine Laterne, wenn man stirbt, mit der die Götter einem den Weg durch die Finsternis leuchten. Es ist, als wenn man träumt. Man nimmt einen süßlichen Duft wahr und spürt keinen Schmerz, keine Kälte und kein Leid. Leute, die man hängt, machen sich dabei in die Hosen, weil ihnen genügend Zeit bleibt, über ihre Sünden nachzudenken, und sie befürchten, von den Göttern verdammt zu werden.« Hagrim überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Das ist alles, was ich weiß, aber wenn ich das nächste Mal in den Genuss komme, mit einem Toten zu reden, werde ich ihn noch einmal genau befragen. Willst du sonst noch etwas wissen?«
»Nein, du hast alles aufgezählt, was man wissen konnte. Viele der Sachen lassen sich einfach erklären. Das Licht kommt durch einen Augenkrampf, die Gefühllosigkeit durch den Schock. Das Urinieren entsteht durch die Muskelerschlaffung«, erklärte Cindiel.
»Das ist toll«, sagte Hagrim. »Damit hätten wir das geklärt. Können wir jetzt zur nächsten Herberge?«
»Noch nicht, noch ist offen, was mit dem süßlichen Duft ist.«
»Wenn ich jetzt sage, es ist der Duft von jungen Mädchen, die einen auf der anderen Seite erwarten, wirst du mir den Glauben daran sicherlich auch durch eine rationale Erklärung kaputtmachen.«
»Er kommt nur von einer Frau, und sie wartet nicht auf der anderen Seite, sondern dazwischen«, erklärte Cindiel.
»Kenne ich sie? Vielleicht die Schwester von Frau Mergil?«
»Knapp daneben, alter Mann. Es ist Bocco Talis.«
Hagrim war erleichtert. Sein Weltbild rückte sich langsam wieder zurecht. Bei all den gescheiten Erklärungen, die Cindiel von sich gegeben hatte, konnte sie einem das Himmelreich richtig vermiesen. Doch jetzt, mit dem Verweis auf Bocco Talis, machte sie sich mehr als unglaubwürdig. Die Geschichte von Bocco, der alten Hexe, erzählte man Kindern, damit sie artig waren. Es war ein Märchen, mehr nicht. Niemand, der einigermaßen Verstand besaß, würde daran glauben. Schon allein der Name klang suspekt. Man hatte ihn sicher gewählt, damit Kleinkinder ihn auch aussprechen konnten und er nicht mit wirklich existierenden Personen in Verbindung gebracht werden konnte.
»Das ist albern«, grunzte Hagrim. »Die Geschichte von Bocco Talis ist ein Kindermärchen. Bocco, was sollte denn das für ein Name sein? Bocco ist ein Geräusch oder ein schlechter Geschmack im Mund, aber keine Frau würde sich Bocco nennen.«
»Männer«, raunte Cindiel. »Ich kenne drei von euch etwas besser. Der erste ist drei Schritt groß und liest immer noch Geschichten über Prinzessinnen und Drachen, der nächste glaubt, dass es das Pilzmännchen wirklich gibt. Und für den letzten ist jede Geschichte, die er nicht selbst erzählt hat, ein Lügenmärchen.«
Hagrim klatschte vor Freude in die Hände. »Du sprichst von Mogda und Finnegan, was für zwei Einfaltspinsel - aber wer ist der Dritte?«
Cindiel fiel auf Hagrims Finten nicht mehr herein. Sie wusste, je mehr sie sich aufregte, desto mehr Freude fand Hagrim an dem Gespräch. Sie kniete sich hin und begann, mit den Fingern Linien in die feuchte Erde zu zeichnen. Hagrim schaute ihr gespannt zu.
»Dann lass mal hören, was du über Bocco weißt«, sagte Cindiel, während sie weiter vor dem Baum hockte.
»Puh, was soll ich schon über die Vettel wissen?«, klagte Hagrim. »Es ist bestimmt ein halbes Jahrhundert her, dass ich das letzte Mal ihren Namen gehört habe. Ich glaube, meine Mutter erzählte mir von ihr, als ich wieder einmal Apfel vom Friedhof gestohlen hatte. Meine Mutter war keine besonders gute Geschichtenerzählerin. Sie war der Meinung, es müsse reichen, wenn man die Namen und Orte aufzählte, die in der Geschichte vorkamen. Und
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