Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
ihr auf dem Fuße. Die Luft in dem Gemäuer roch muffig, versetzt mit einem süßlichen Duft. Cindiel setzte jeden Schritt mit Bedacht, um auf der steilen Treppe nicht zu stürzen. Erst als sie unten war, sah sie sich um.
»Das ist ein Weinkeller«, entfuhr es Hagrim und erntete damit böse Blicke von Cindiel.
Das Licht des glühenden Steins erhellte den Keller nur schwach, doch es reichte, um zu erkennen, dass sie allein waren. Die Wände waren vollgestellt mit Weinregalen, und links und rechts neben der Treppe befanden sich zwei große Eichenfässer. Neben einem kleinen, aber massiven Tisch, an dem eine Vorrichtung zum Entkorken von Flaschen befestigt war, befanden sich in dem Gewölbe noch zwei Stühle, ein klappriger Ständer behängt mit Putzlumpen sowie ein Handkarren. Die Behausung von Bocco Talis, wenn sie es denn war, wirkte wie jeder gewöhnliche Weinkeller unter irgendeiner beliebigen Kneipe.
»Sie mag wohl keinen Rotwein«, flüsterte Hagrim. Er betrachtete die verstaubten Flaschen, deren Hälse geschützt auf einer Korkkante lagen. Der bauchige Teil ruhte in feinen Kies gebettet, den man in die Zwischenböden gestreut hatte. Vorsichtig zog er eine heraus.
»Hossa!«, rief Hagrim aus und war selbst erschrocken über die ungewollte Lautstärke des eigenen Ausrufs, auch ohne dass Cindiel ihn ermahnen musste. »Das ist eine Flasche Cyrinischer Wein. Ich glaube gehört zu haben, dass es das Land Cyrin schon seit hunderten von Jahren nicht mehr gibt«, flüsterte er.
»Seit sechshundert Jahren«, präzisierte Cindiel. »Bocco Talis lebte einst in Cyrin. Sie unterhielt dort ein Schankhaus und versorgte nebenbei das Königshaus mit allerlei Tränken, Salben und Arzneien. Der Sohn des Königs war ein regelrechter Schürzenjäger. Trotz seines guten Aussehens machte er sich seine Liebschaften mit Tränken aus Bocco Talis' Kräuterküche hörig. Er unterhielt einen ganzen Konkubinenstaat. Was er jedoch nicht bedachte, war die Eifersucht der Frauen untereinander. Eines Morgens öffnete man die Türen zum Schlafgemach der Frauen und fand sie alle ermordet vor. Man hatte ihnen in der Nacht die Kehlen durchgeschnitten. Als man dem Königssohn von dem Massaker berichten wollte, fand man auch ihn in seinem Gemach mit einem Messer in der Brust. Eine der Frauen hockte über seinem toten Körper und übersäte ihn mit Küssen. Die Wachen richteten seine Liebste noch vor Ort. Dem König jedoch reichte dies nicht als Genugtuung. Er machte Bocco Talis und ihre Tränke für das Unglück verantwortlich. Während Bocco schlief, umstellten die Wachen ihr Haus, versperrten alle Fenster und Türen und zündeten die Taverne an. Man erzählt sich, Boccos Geist habe sich in den Keller geflüchtet und ihn aus Zeit und Raum herausgerissen, während ihr Körper im Obergeschoss verbrannte. Jetzt reist sie durch die Jahrhunderte und sammelt in den Weinflaschen die Seelen zu Unrecht getöteter Menschen, bis sie eine Armee für ihre Rache zusammenhat.«
»Das kann nicht lange dauern«, kommentierte Hagrim und schüttelte die Rotweinflasche vor seinen Augen hin und her. »Hier ist noch keine Seele drin, jedenfalls keine, die noch nüchtern ist.«
Die beiden hatten gar nicht bemerkt, wie der Nebel, der den Boden bedeckte, immer dichter geworden war. Erst als Hagrim durch das immer schlechter werdende Licht das Flaschenetikett nicht mehr lesen konnte, wurde er stutzig.
»Dein Stein erlischt langsam«, sagte er.
»Sie ist hier«, flüsterte Cindiel.
Der Nebel geriet in Wallung. Wie die Brandung an einer Klippe schlug er gegen die Wände und schwappte zurück, um sich mit den nachfolgenden Wogen zu vermengen. Mehrfach glaubte Cindiel, aus den Augenwinkeln eine Bewegung zu erkennen, doch jedes Mal, wenn sie den Kopf drehte, sah sie nichts außer dem brodelnden weißen Nebel.
»Das war eine schöne Geschichte, nur im Laufe der Zeit ist sie etwas verfälscht worden«, krächzte eine Stimme genau vor Cindiel.
Wie eine Schlange erhob sich Bocco Talis aus dem Nebel. Obwohl dieser kaum einen Fuß hoch war, schaute nur ihr Oberkörper daraus hervor. Mit den Händen schien sie sich am Boden abzustützen. Die linke Hälfte ihres Gesichtes war das einer uralten Frau. Lange grauweiße Haare fielen ihr über die Schulter herab, und ihr Auge leuchtete milchig-trüb. Die rechte Gesichtshälfte war vollkommen entstellt, die Haare bis zum Scheitelansatz verbrannt. Überall prangten schorfige Hautreste, und ein Stück des Mundwinkels fehlte gänzlich
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