Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
und entblößte einen Teil von Ober- und Unterkiefer.
»Der Sohn des Königs sah nicht sonderlich gut aus«, sagte Bocco. »Seine Stellung aber machte sein Aussehen wett. Außerdem war es nicht der König, der seiner Garde befahl, mich zu strafen, es war die Königin, die den Tod ihres Sohnes nicht verkraften konnte und wollte. Außerdem war es kein Messer, dass dem kleinen Taugenichts in die Brust gerammt wurde, es war ein dreiarmiger Kerzenleuchter. Aber dies sind Details, welche die Menschen genauso wenig interessieren wie die Frage, wer wirklich Schuld trug an der Tat.«
Cindiel und Hagrim wagten nicht, sich zu bewegen. Cindiel hatte eine ungefähre Ahnung von dem gehabt, was sie hier erwartete, und dennoch war sie starr vor Angst. Hagrim wäre am liebsten davongerannt, aber der Geschichtenerzähler in ihm hielt ihn gefangen. Wo sonst hatte man die Gelegenheit, einer Legende zu begegnen, auch wenn sie einem Schauermärchen entsprungen war?
Bocco Talis kam langsam auf Cindiel zu. Die Alte bewegte sich rutschend vorwärts. Mit den Armen stützte sie sich vom Boden ab, dann schwang sie ihren Oberkörper nach vorne. Die Arme folgten, setzten wieder auf; und die Prozedur wiederholte sich. Bocco Talis hatte dabei etwas von einem Raubtier, das sich an seine Beute anschlich.
»Bleib zurück«, sagte Cindiel bestimmt. »Du sollst mir nur einige Fragen beantworten.«
»Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht hergekommen bist, um lediglich herauszufinden, ob es mich wirklich gibt. Aber du weißt, dass Antworten niemals umsonst sind.«
Natürlich wusste Cindiel das. Sie hatte viel über die einstige Hexe in den Aufzeichnungen ihrer Großmutter gefunden. Bocco Talis' Orakelsprüche waren niemals umsonst. Doch nicht die Bezahlung war das eigentlich Heikle an ihnen, sondern vielmehr die Deutung der kryptischen Antworten. Orakelfrauen sprachen mit gespaltener Zunge. Was ihre Entlohnung anging, stand in den Büchern geschrieben, dass sie sich mit Kleinigkeiten aus dem weltlichen Reich zufriedengab. Geister liebten Erinnerungen an ihr früheres Leben.
»Sag mir, ob die Götter uns verlassen oder ob sie nur ihren Blick von uns abgewandt haben.«
Bocco grinste breit, was ihren unansehnlichen Kiefer noch weiter freilegte. »Nichts von beidem, aber mehr von dem Zweiten als dem Ersten.«
Cindiel hatte bereits Erfahrungen gesammelt mit den Antworten von Schamanen, Orakeln und Weissagern und wusste sie zu deuten. So eine klare Antwort jedoch hatte sie nicht erwartet.
»Können wir die Macht der Götter zurückbringen, indem wir ihnen absoluten Gehorsam leisten und ihren weltlichen Stimmen folgen?«
»Die Götter sind verstummt. Sie haben keine weltlichen Stimmen mehr. Alles, was du hörst, ist das Gewinsel von alten Männern, die es nicht verkraften, machtlos zu sein.«
Cindiels Befürchtungen stellten sich somit als wahr heraus. Die Kleriker des Prios' handelten also allein aus Eigennutz heraus. Sie trachteten nach der Macht der Lords, wenn ihnen schon die des Glaubens verwehrt wurde. Wenn es stimmte, was man sich über Bocco Talis erzählte, blieb Cindiel noch genau eine Frage übrig. Die eindeutigen Antworten der Alten verleiteten sie, eine Frage zu stellen, die gegen die Regeln verstieß.
»Wie können wir die Götter zurückholen?«
»Du hast deine Hausaufgaben nicht gemacht, junge Hexe«, krächzte Bocco. »Hat dir die alte Gerba nicht beigebracht, was zu fragen es gilt und welche Antworten sich nur durch Taten ergeben? Du kommst hierher und denkst, du bekommst von mir eine Antwort auf eine Frage, welche die Götter selbst gestellt haben? Du musst noch viel lernen, Kindchen.«
Bocco Talis kroch weiter auf Cindiel zu. »Um dich bei deiner Suche weiterzubringen, gebe ich dir dennoch eine Antwort: Wonach du suchst, ist eine alte Prophezeiung. Nie wurde sie richtig gedeutet. Im Laufe der Jahre wurde sie falsch wiedergegeben und schließlich von anderen für ihre eigenen Ziele genutzt. Mittlerweile ist sie völlig vergessen.«
Das war eine Antwort nach Cindiels Geschmack. Wer suchte nicht gern nach Überlieferungen, die falsch verstanden, sinnverdreht, abgewandelt und vergessen worden waren? Wie sollte sie etwas herausfinden, was schon seit vielen hundert Jahren von niemandem hatte gelöst werden können?
Darauf kam es aber gar nicht in erster Linie an. Bocco hatte ihr gesagt, was sie am dringlichsten hatte wissen wollen: Die Menschen mit ihrem blinden Hass gegen die Kreaturen Tabals waren im Unrecht. Ihre Aufgabe war
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