Blutiges Echo (German Edition)
wieder zu sich gekommen war, hatte Tad gesagt: »Du musst auf beide Hände aufpassen. Die meisten Leute haben nämlich zwei.«
Er wurde also besser. Nicht so schnell, wie er sich’s wünschte, aber immerhin.
Natürlich hatte er die Eierkartons wieder angebracht. Und die Pappen auch. Er war ja nicht blöd.
Eines Tages bei der Arbeit, als er gerade ganz in Gedanken versunken Bücher einsortierte, ohne an Talia, das College, die Geräusche oder so zu denken, hörte er eine weibliche Stimme: »Hey.«
Es war Kayla. Statt der Polizistenkluft trug sie ein weites T-Shirt, eine Bluejeans, Turnschuhe und einen übergroßen Mantel. Das Haar hatte sie zusammengebunden und fast gar kein Make-up aufgetragen. Sie lächelte. Er liebte es, wie sie lächelte. Sie hatte einen großen, ausdrucksstarken Mund, und ihr Lächeln steckte ihn immer an.
»Diesmal war ich vorsichtiger«, sagte sie. »Damit du dir nicht den Kopf stößt.«
»Nichts passiert, mir geht’s gut.«
»Hast du irgendwann Pause?«
Harry sah auf seine Armbanduhr. »In fünf Minuten hab ich Schluss. Ich arbeite immer nur vormittags, zwei bis drei Stunden.«
»Könntest du ein Mädchen auf einen Kaffee ausführen?«
»Könnte ich. Würde ich sogar. Mit Vergnügen.«
»Weißt du noch, wie Joey immer Prügel bezogen hat?«, fragte Kayla.
»Eigentlich hatte er nie eine Chance, oder?«
»Vermutlich nicht.«
»Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich mit ihm befreundet geblieben bin. Momentan reden wir zwar nicht miteinander, aber das wird wieder. Irgendwann melde ich mich immer wieder bei ihm. Er gehört einfach irgendwie zu mir.«
Sie saßen in Kaylas Wagen, und als sie in ihre Einfahrt bogen, preschte ein riesiges Reh in den Vorgarten und sprang aufs Auto.
Nein. Kein Reh. Ein gewaltiger Hund.
»Du meine Güte«, sagte Harry.
»Das ist Winston«, erklärte Kayla. »Er ist halb Dänische Dogge oder so.«
Sie blieben im Auto sitzen und betrachteten Winston. Seine Pfoten lagen auf der Motorhaube, die Zunge hing ihm aus dem Maul, und Speichel tropfte in alle Richtungen.
»Genau genommen ist er ein Welpe«, sagte Kayla. »Er hat Eier so groß wie Tennisbälle, aber er ist noch ein Welpe. Er gehört meinem Nachbarn. Winston läuft gerne über Autos.«
»Im Ernst?«
»Und auf dem Weg zur Haustür versenkt er gern die Schnauze fünfzehn Zentimeter tief in meinem Hintern.«
Tja, dachte Harry, da hat er mit vielen Männchen was gemeinsam. »Das ist nicht so gut«, sagte er.
»Je nachdem, wie ich drauf bin«, antwortete Kayla, schaute zu ihm hinüber und lächelte.
»Können wir aussteigen?«
»Können wir. Aber es ist besser, ihn zuerst irgendwie mit dem Auto fertig werden zu lassen.«
Kurz darauf kletterte Winston so weit hoch, dass er auf der Motorhaube stehen konnte, glotzte direkt durch die Windschutzscheibe und hinterließ mit seiner Hundeschnauze Schlieren auf dem Glas. Aus dieser Perspektive konnte Harry bestätigen, dass Winston tatsächlich Eier in Tennisballgröße besaß.
»Das kann für dein Auto nicht gesund sein«, sagte Harry.
»Ist ja zum Glück ohnehin eine Schrottlaube. Den Streifenwagen fahre ich liebend gern, der schnurrt wie eine Katze. Der hier röchelt eher.«
»So einen hab ich auch«, sagte er. »Einen, der röchelt, meine ich.«
Winston sprang von der Motorhaube herunter, raste durch den Vorgarten, schob den Kopf unter einen wild wuchernden Busch und fing an, mit der Schnauze in der Erde zu wühlen. Kurz darauf klappte er das Maul mit einer Hingabe auf und zu, die, wäre er kein Hund gewesen, auf Drogenkonsum hätte schließen lassen.
»Katzenscheiße«, erläuterte Kayla. »Er gräbt sie unterm Busch vor. Er steigt auf Autos, schnüffelt an Ärschen und frisst Katzenscheiße. So sieht sein Leben aus. Schlicht, aber irgendwie poetisch, findest du nicht?«
Als sie Kaylas Tür erreichten, kam Winston herübergerannt und beschnüffelte sie. »Geh weg, Winston«, sagte Kayla.
Der Hund blickte sie an, als hätte sie ihn beleidigt, dann peste er durch den Vorgarten zurück.
»Ich hab immer Angst, dass sein dicker dummer Arsch irgendwann mal überfahren wird«, sagte Kayla und steckte den Schlüssel ins Schloss. »Als Bulle könnte ich dem Besitzer zwar ziemlichen Ärger machen, aber ich fürchte, dass Winston dann ins Tierheim kommt und eingeschläfert wird. Hier in der Gegend haben sich die meisten Nachbarn an ihn gewöhnt.«
Drinnen roch es schwach nach Räucherstäbchen und Kaylas intensivem Parfüm. »Ich dachte, wir
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