Blutiges Eis
Sie hier sind – um mehr über Howard Matlock herauszufinden. Wie sieht das denn aus, wenn ein Tourist in meine Stadt kommt und an die Bären verfüttert wird? Nur war er ja vermutlich kein Tourist, was mir auch zu schaffen macht. Ich bin noch mal hergekommen, weil ich mir ein besseres Bild von dem Kerl machen wollte. Ich bin noch mal hergekommen, weil mir vieles nicht klar ist. Ich bin gekommen, weil ich im Moment nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gerne mit meiner Arbeit fortfahren.« Cardinal wartete einen Moment und lauschte. Aus Richtung Tür war nichts zu hören. Er drehte sich um.
Es war niemand da. Seine Beretta lag auf dem Küchentisch, ohne den Ladestreifen. Er war zu spät an der Tür, um noch etwas zu sehen. Er fluchte leise. Wie sollte er den fehlenden Ladestreifen erklären?
Er schob die Tür zum Einbauschrank zu und ließ den Blick noch einmal über den Raum schweifen, bevor er abschloss. Der Junge war gut, das musste der Neid ihm lassen. Überrumpelt ihn, nimmt ihm die Waffe ab und löst sich in Nichts auf! Auf dem Weg zum Parkplatz dachte Cardinal daran, eine Großfahndung nach sämtlichen blonden Jüngelchen einzuleiten. Doch als er zu seinem Wagen kam, fand er den Ladestreifenseiner Beretta auf dem Dach über der Tür zum Fahrersitz.
Als er nach Hause kam, saß Catherine, vollkommen reglos, im Lotussitz. Vom Öffnen der Tür flackerte eine Kerze im Lufthauch. Auf dem Fernseher kringelte sich der Rauch von einem Räucherstäbchen empor.
»Du kommst spät«, sagte sie.
»Hier riecht’s nirwanisch.« Cardinal machte immer irgendwelche Kommentare über ihre Räucherstäbchen, und sie ignorierte sie jedes Mal. »Wie geht’s meiner Swami?«
»Du meinst wohl Buddha. Den Klinikspeck werd ich nie wieder los.«
»Du bist nicht dick.«
»Immer nur Brot und Kartoffeln, was anderes gab’s in der O. P. H. ja nicht, und jetzt komm ich nicht mehr in meine Sachen rein.«
Es stimmte schon, dass Cathy in der Psychiatrischen Klinik von Ontario – auch diesmal wieder – ein paar Pfündchen zugenommen hatte, doch im großen Ganzen, fand Cardinal, sah seine Frau prächtig aus. Ein wenig runder um die Hüften, vielleicht ein bisschen mehr Bauch, aber für eine Frau mit einer sechsundzwanzigjährigen Tochter sah sie verdammt gut aus.
Als sie ihre Beine entwirrte, gab Cathy einen langen Seufzer von sich. Cardinal sah es gerne, wenn sie Yoga machte, selbst spätabends; sie wurde selten krank, wenn sie auf sich Acht gab.
»Dein Vater hat angerufen. Er hat einen Termin beim Kardiologen für morgen früh bekommen. Ich fahr ihn hin.«
»Ausgezeichnet. Seine neue Ärztin versteht es, ihn dahin zu kriegen, wo sie ihn haben will.«
»Du siehst ein bisschen mitgenommen aus«, sagte Catherine. »Fehlt dir was?«
»Viel zu tun, weiter nichts. Kein Grund zur Sorge.«
»Möchtest du drüber reden?«
»Ach wo.« Er sprach kaum einmal mit ihr über den Beruf. Keiner der Kollegen im Kommissariat sprach mit seiner Frau über das, was bei der Arbeit passierte. »Falsch verstandene Rücksicht«, hatte ein Freund Cardinal einmal erklärt, aber wahrscheinlich lebte der nicht mit einer Manisch-Depressiven zusammen. Cardinal hatte nicht die Absicht, seine Frau noch mehr zu belasten. Außerdem war es ihm immer noch viel zu peinlich, dass dieses Kind ihm seine Waffe abgenommen hatte. Er ließ sich aufs Sofa plumpsen und sog den Sandelholzduft ein. Sehr hohe Schwingungen, hatte Catherine ihm versichert.
Das Haus war wunderbar still. Sein Refugium. Die letzte Glut eines Feuers im Ofen tauchte das Zimmer in ein warmes Licht.
»Das ist für dich gekommen«, sagte Catherine und reichte ihm einen quadratischen Umschlag. »Säuische Handschrift.«
Und kein Absender drauf, dachte Cardinal. Er riss den Brief auf und zog eine Karte mit einem großen roten Herz darauf heraus. Auf die Vorderseite waren die Worte Es ist zwölf Jahre her, Schätzchen … eingeprägt, und auf der Innenseite, aber ich liebe dich noch wie am ersten Tag! Darunter hatte jemand geschrieben: »Bis bald.«
Natürlich fehlte – wie immer – die Unterschrift, doch Cardinal wusste, von wem es war. Vor zwölf Jahren hatte er mit dazu beigetragen, dass jemand ins Gefängnis kam; der Mann war kurz vor der Entlassung. Doch die entscheidende Botschaft stand nicht auf der Karte, sondern auf dem Umschlag, zwischen den Zeilen seiner Privatanschrift: Ich weiß, wo du wohnst.
Catherine sagte etwas zu ihm, doch Cardinal konnte
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