Blutiges Gold
Pfad war von früheren Wanderern gut ausgetreten und sichtbar. Auch wenn es nicht so gewesen wäre, hätte Shane nicht gezögert. Jeder weitere Schritt hinauf zum kahlen Sockel des Felsvorsprungs ließ ihn sicherer werden, dass sie auf dem richtigen Weg waren.
»Spürst du es?«, fragte er ruhig.
»Ja.« Risas Stimme klang gepresst, was Shane verriet, wie sehr sie es hasste, etwas zu spüren, was sie nicht anfassen konnte.
Shane hielt an und schaute zu ihr zurück. »Stört es dich, dass ich es auch spüren kann?«
»Nein. Sollte es?«
»Ich habe mir gerade überlegt, ob es vielleicht das war, was dich so lange von mir weggetrieben hat.«
»Das war einfach gesunder Menschenverstand. Ich wollte nicht den Job wechseln.«
»Danach hatte es aber nicht geklungen, als du mit den Stellenangeboten zu mir gekommen bist und ich deren Honorare überbieten musste.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich blöd war. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht den Job wechseln wollte.«
Er lächelte, obwohl sich seine Haut bei jedem Schritt den Pfad hinauf spürbar anspannte. Es war nicht so, dass es ganz und gar unangenehm für ihn gewesen wäre. Es war eher das Empfinden eines Andersseins, ein Hauch, der durch alle Nerven lief, urwüchsig, ein schwacher Brandgeruch in der Luft, wie nach einem nahen Blitzeinschlag.
Er genoss es eher.
»Wie geht’s deiner Gänsehaut?«, fragte er nach einer Weile.
»Viel besser als mir. Warum?«
Etwas raschelte im Gebüsch, ein paar Meter vom Pfad entfernt. Er spähte dorthin, lauschte, sah aber nur einige vierbeinige Schatten, die in tiefere Schatten davonrannten.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte er und wandte sich wieder dem Pfad zu.
»Woher weißt du das?«
»Weil O’Connor ein alter Mann war, und alte Männer klettern nicht die Felsen hinauf.« Shane hielt an. »Jedenfalls nicht diesen hier.«
Der dünne Strahl der Taschenlampe konnte die Dunkelheit, in der die Felsspitze verborgen lag, bei Weitem nicht durchdringen.
»Es ist rechts«, meinte Risa.
»Was?«
»Was auch immer einem Teil von mir zuflüstert, den ich nicht mal kennen will.«
Trotz ihrer Worte ging sie um ihn herum und lief in Richtung des nicht ganz so dunklen Pfads, der am Sockel des Felsens verlief. Shane hatte recht. Das zu ignorieren, was sie in sich barg, hatte es nicht zum Verstummen gebracht. Außerdem war es auch für sie eine Erleichterung zu wissen, dass sie nicht die Einzige mit merkwürdigen Empfindungen war.
Wir sind bereits eine Menge, keine Singularitäten mehr.
Sie lächelte in Erinnerung an Shanes Worte, als sie in der Dunkelheit über einen Stein stolperte, beide Hände vor sich ausstreckte, um sich abzufangen, und gegen einen von drei Menhiren prallte.
Heftige Gefühle durchfluteten sie, ein Ansturm von Gesichtern unter goldenen Masken, rituellen Dolchklingen von Tod und Erneuerung, Stimmen, die heilige Sprüche aufsagten, und all das wirbelte durch Zeit und Mondlicht, durch sie hindurch, bis es in ihrem Kopf herumwirbelte und sie schreien wollte, wenn sie Luft bekommen hätte.
Dann wurde es wieder Nacht, sie spürte sich selbst und Shanes Wärme an ihrem Rücken, seine Hände über ihren gegen den kalten Felsen gepresst, sein Atem leise und schnell in ihrem Haar, Echos des zurückweichenden Zaubers, bis sie wieder im Hier und Heute angelangt war.
»Bist du okay?«, fragte Shane leise mit rauer Stimme.
»Ich glaube, ja.« Sie atmete mit einem zittrigen Seufzer aus. »Und du?«
»Ich habe noch damit zu tun.«
»Hast du begriffen, was da gerade mit uns passiert ist?«
Der Laut, den er von sich gab, klang nicht nach einem Lachen. »Nein. Und ich will es auch nicht wissen.«
Er zog ihre Hände von dem Felsen weg. Dann legte er seine eigenen Hände absichtlich wieder dorthin zurück.
Sie schaute zu und wartete. »Spürst du etwas?«
»Kalten Felsen. Und …«
Sie wollte nicht nachfragen. Aber sie konnte nicht anders. »Was?«
»Zeit. Große Entfernung. Nacht. Die Art von Nacht, die keine Dämmerung kennt.«
»Darum haben sie die Sommer- und Wintersonnenwende besonders gefeiert«, sagte Risa leise, und sie wusste jetzt, was sie nicht berühren konnte. »Darum haben sie ihre Träume und Gebete in Gold gegossen, Gold, das nie zerfiel, nie verdarb, sich nie veränderte. Das Gold und die Zeremonien und die blutigen Opfer waren all den namenlosen und benamten Göttern gewidmet, die das Leben in der Hand hatten. Die Dunkelheit, auf die keine Dämmerung folgte, die Kälte, die keine Wärme
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