Blutiges Schweigen
bereit, sie zu benutzen, wenn er hereinkam.
Sie wartete.
Er rührte sich noch immer nicht. Das Knistern aus dem Lautsprecher in der Zimmerecke wurde kurz lauter, knackte, brach sich an den Wänden und änderte die Tonhöhe.
»Wo hast du dich versteckt, Sona?«
Seine Stimme kam aus den Lautsprechern über ihr und neben ihr auf der anderen Seite der Tür. Eine Welle durchfuhr ihre Beine. Einen Moment lang lähmte die Angst ihre Muskeln. Sie wich weiter in Richtung Wand zurück, um zu verhindern, dass sie stürzte. Die Bewegung verursachte ein winziges Geräusch, ein Quietschen, als der Ballen ihres nackten Fußes über den gebohnerten Boden rutschte.
Es genügte.
Die Tür schoss so schnell auf sie zu, dass sie es kaum bemerkte. In Sekundenschnelle prallte das Türblatt gegen ihr Gesicht und traf ihren Wangenknochen. Sona stolperte rückwärts und versuchte, das Skalpell weiter vor ihren Körper zu halten. Sie musste jetzt wachsam bleiben. Kurz sagte ihr Verstand, dass sie eigentlich Schmerzen haben müsste – aber sie spürte nichts.
Und dann kam er um die Tür herum und stürzte sich auf sie.
Er trug einen hellblauen OP-Anzug, eine Kappe und eine Gesichtsmaske, unter der sie blaue Augen funkeln sehen konnte. Ein Draht lugte unter der Maske hervor und führte unter den OP-Anzug. In dem Sekundenbruchteil, den sie brauchte, um von dem Draht wieder zu seinem Gesicht zu schauen, schloss er die Hand um ihre Kehle und drückte zu.
Ein statisches Knistern.
Er zerrte sie zu Boden. Sie blickte zu ihm auf. In seine Augen. Sie waren schmal und strahlten den Wunsch aus, ihr wehzutun. Als ihre Beine nachgaben, zog er sie tiefer nach unten. Er wollte ihr zeigen, wer hier das Sagen hatte, und zwang sie, ein kurzes, abgehacktes Keuchen auszustoßen, als
ihre Lunge versuchte, die Luft durch die Kehle nach oben zu pressen. Sein Daumen bohrte sich fester in ihre Luftröhre. Sie war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
Der Überlebensinstinkt meldete sich.
Sie umfasste das Skalpell, so fest sie konnte, und rammte es in seinen rechten Handrücken. Er schrie auf. Zunächst wurde seine Stimme von der Maske gedämpft, doch in der nächsten Sekunde hallte sie aus den Lautsprechern – eine verzögerte und verzerrte Wiederholung seiner Reaktion. Beide Hände gaben sie frei. Das Geräusch erstarb. Ein Schmerzenslaut, abgelöst von statischem Knistern und einer Rückkopplung.
Sona rappelte sich auf und rannte an ihm vorbei und zur Tür hinaus. Ein langer grauer Flur. Betonwände. Neonröhren bis zum Ende. Sie schaute in beide Richtungen. Links von ihr beschrieb der Flur eine rechtwinklige Kurve, hinter der sie nur Dunkelheit wahrnahm. Rechts befand sich eine schwere Eisentür, ringsherum mit dicken Beschlägen gesichert.
Sie lief nach links.
»Verdammtes Miststück!«
Sie konnte ihn nur hören, aber nicht sehen, als sie weiterfloh. Seine Stimme kam aus einem Lautsprecher vor ihr hoch oben an der Wand. Nach ein paar Metern erreichte sie zwei Türen, die einander gegenüberlagen. Sie waren beide geschlossen. Der Flur bog nach links ab.
Hinter ihr Schritte.
Wieder schaute sie über die Schulter. Er erschien in der Tür und hatte sie sofort im Blick. Blut tropfte von seiner Hand auf OP-Kittel und Hose. Doch das kümmerte ihn offenbar nicht. Über ihr knisterten die Lautsprecher, und seine raunende Stimme wehte zu ihr herüber. »Es gibt kein Entkommen.«
Sona drehte sich um und rannte wieder los. Nach der Linkskurve mündete der Korridor in einen anderen, der kürzer war. An der Wand waren einige Kisten gestapelt. Hier gab
es keine Deckenbeleuchtung. Auf der linken Seite befand sich eine Glasfront, auf der rechten war die Wand aus Beton. Am Ende, in etwa fünfzehn Metern Entfernung, verband eine Tür diesen Flur mit einem besser beleuchteten Raum.
»Wo willst du hin, Sona?«
Über ihr hing wieder ein Lautsprecher.
»Es gibt kein Entkommen!«
Erneut hörte sie seine Schritte hinter sich, drehte sich aber diesmal nicht um. Stattdessen richtete sie den Blick starr auf das Ende des Flurs. Nicht nachlassen. Das Tempo halten. Nicht auf die Schmerzen achten, die sich auf Wangen und Stirn ausbreiteten. Und auch nicht auf die innere Stimme, die schrie, dass sie ihm niemals entrinnen würde.
Im Vorbeilaufen bemerkte sie plötzlich, dass es sich bei den Glasscheiben um Fenster handelte.
Das erste gehörte zu einem Zimmer, das sie erkannte. Weiße Wände. Weiße Decke. Sie konnte den Tisch und die Karten darauf sehen, die auf
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