Blutiges Schweigen
alle überrascht. Ich hatte keine Waffe bei ihm bemerkt und auch gar nicht daran gedacht, nach einer Ausschau zu halten, und wollte in diesem Sekundenbruchteil nur noch den Moment rückgängig machen, in dem er mich mit dem Auto abgeholt hatte. Denn nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hätte es wissen müssen. Sehen sollen. Er war ein Spielball seiner Dämonen, ein einsamer Jäger auf der Pirsch, angetrieben vom Rachedurst. Wut brodelte in ihm. Zehrte ihn auf. Und nun stand er, die Waffe gezückt, vor den beiden Männern, die er für die Schuldigen an seinem Leid hielt. Sein Finger strich über den Abzug. Pistolen sind Spiegel dessen, was in ihren Besitzern vorgeht: Entweder demonstrieren sie dem Gegner Überlegenheit – oder eben nicht.
»Zurück, Hart«, zischte Healy.
Hart machte einen Schritt rückwärts und streckte die Hände aus. Seine Augen huschten zwischen uns hin und her. »Verdammte Scheiße, Healy«, murmelte Davidson, der neben ihm stand.
»Healy«, begann ich beschwichtigend.
»Maul halten.«
»Healy, so können Sie nicht …«
»Maul halten, verdammt!« , brüllte er mich an.
Hart wies mit dem Kopf auf die Pistole. »Colm, kommen Sie wieder runter.«
»Ich bin ganz ruhig«, entgegnete er.
»So werden Sie Leanne nie finden.«
»Wie dann?«, entgegnete Healy. »Mit Ihrer Methode vielleicht?« Er schnaubte verächtlich. »Diese Gardinenpredigt habe ich mir schon von Phillips anhören dürfen.«
Ich beobachtete, wie Hart die Hände noch ein wenig höher hob. »Ich habe keine Ahnung, wie es ist, eine Tochter zu
verlieren, wie Sie, Colm. Wirklich nicht. Aber trotzdem darf man die Sache nicht so angehen, das garantiere ich Ihnen. Wenn Sie Beweise gegen den Entführer haben, müssen Sie sie richtig darlegen. So« – mit einem Blick auf die Pistole hielt er inne – »so funktioniert es jedenfalls nicht.«
Hart warf mir einen Blick zu, und ich wusste, was er mir damit mitzuteilen versuchte: Tun Sie etwas, David . Er wollte, dass ich Healy in den Arm fiel. Ich sollte einen Satz nach der Pistole machen und ihn zu Boden reißen. Eigentlich wäre das auch das Richtige gewesen. Inzwischen hatte Healy den Weg nach unten schon zur Hälfte hinter sich gebracht. Er war unberechenbar und gefährlich. Wenn es nicht Hart und Davidson waren, von denen er sich gestört fühlte, würde es jemand anderes sein. Früher oder später würde jemand in seine Schusslinie geraten.
Allerdings wurde mir in diesem Moment ebenfalls klar, dass ich es nicht über mich bringen würde, mich gegen ihn zu stellen.
Tief in meinem Innersten empfand ich eine merkwürdige Seelenverwandtschaft mit ihm, obwohl er mit einer Waffe herumfuchtelte. Er fühlte sich von seinen Kollegen im Stich gelassen, von den Menschen, mit denen er den Großteil seines Lebens verbracht hatte – und ich stimmte ihm zu. Er hasste Hart, Davidson, Phillips und all die anderen, weil sie trotz der vielen gemeinsam bearbeiteten Fälle, der Leichen, die sie zusammen gesehen, und der Tatorte, die sie untersucht hatten, mit Leanne umgingen wie mit jedem x-beliebigen Opfer. Und an manchen Tagen hatte er sogar den Eindruck gewinnen müssen, dass sie noch weniger getan hatten als das. Weil sie Leanne nicht als Opfer desselben Entführers sahen, war sie für sie nur ein gesichtsloser Fall, in dem es zu wenig Anhaltspunkte gab. Deshalb verstand ich, dass er sich ungerecht behandelt fühlte. Und mir war völlig klar, warum er sich mit
dem Schicksal des Menschen auseinandersetzen musste, den er auf dieser Welt am meisten geliebt hatte.
»Colm«, sagte Hart. »Legen Sie die Waffe weg und …«
»Und was ?«, entgegnete Healy, während er sich ihnen Schritt für Schritt näherte. Ich sah Hart an, der mir durch eine kaum wahrnehmbare Augenbewegung zu erkennen gab, dass er meine Entscheidung offenbar verstanden hatte. »Dann finden Sie Leanne für mich?«, fuhr Healy fort. »Dann geben Sie zu, dass Sie sich geirrt haben und dass derselbe Täter auch hinter ihrem Verschwinden steckt? Vergessen Sie es. Jetzt brauche ich Sie nicht mehr: Sie, Phillips und Ihre Roboter auf dem Revier. Ich habe heute mehr rausgekriegt als in den neun Monaten, die ich mit Ihnen zusammengearbeitet habe.«
»Colm«, wiederholte Hart in einem letzten Versuch, ihn zur Vernunft zu bringen.
»Nennen Sie mich nicht Colm. Am besten sprechen Sie mich gar nicht an.«
»Wir werden gegen Sie einschreiten müssen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Es spielt keine
Weitere Kostenlose Bücher