Blutiges Schweigen
hundert Jahren gestorben. Etwa um dieselbe Zeit ging es auch mit den Fabriken bergab. Das heißt, dass der Wald mindestens siebzig Jahre lang Gelegenheit hatte, über seine Grenzen hinauszuwuchern, ohne dass sich jemand darum gekümmert oder das verhindert hätte. Diese Zeit reicht, dass Dinge verschwinden. Auch große Dinge.«
»Man hat die Häuser doch abgerissen, nachdem Sykes aufgeknüpft worden war.«
»Das gilt für die Häuser auf dieser Seite.«
»Und vor das andere hat man einfach einen Zaun gesetzt und es vergessen?«
»Das ist meine Vermutung. Damals steckte wahrscheinlich Aberglaube dahinter. Heutzutage ist es eine Frage der Gesundheit und Sicherheit. Die Stadtverwaltung will verhindern, dass sich jemand dort herumtreibt. Ein so altes und baufälliges Haus könnte bei einem starken Sturm in sich zusammenstürzen. Leute klettern darin herum, schlagen ihr Nachtlager auf, machen Feuer, und irgendwann gibt es einen Toten. Deshalb wird vor dem Betreten gewarnt.«
»Darum die Mauer?«
Er meinte die Betonmauer auf der anderen Seite des Flusses, die Sona beschrieben hatte. Ich nickte. »Ich wette, man hat sie gebaut, um ungebetene Gäste fernzuhalten, als der Zaun das letzte Mal ersetzt wurde. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme.«
»Und auf der anderen Seite der Mauer?«
»Befindet sich der Fluss, der Sona zur Themse geschwemmt hat.«
»Und am gegenüberliegenden Flussufer …«
»Ich denke, da steht wohl das Haus.«
Einen Moment herrschte Totenstille. Kein Verkehrslärm war zu hören. Kein Regen prasselte aufs Dach. Es war, als hätten
der Wald und der Gedanke an das, was uns dort erwartete, der Nacht sämtliche Geräusche entzogen.
Und dann klingelte mein Telefon.
Es war Ewan Tasker.
»Task. Alles in Ordnung mit Jill?«
»Keine Ahnung.«
»Was soll das heißen?«
»Dass sie nicht da ist. Das Haus sieht aus wie ein Mausoleum. Kein Licht, niemand macht auf. Wahrscheinlich habe ich den Klingelknopf abgewetzt, so oft habe ich draufgedrückt.«
»Hast du sie angerufen?«
»Ihr Mobiltelefon ist ausgeschaltet. Und das Festnetztelefon klingelt einfach durch.«
Ich warf Healy einen Blick zu, den er erwiderte.
»Hast du nach Einbruchsspuren gesucht?«
»Hinten und vorn.«
»Nichts?«
»Nichts.«
Scheiße. Wieder sah ich Healy an. Diesmal versuchte er nicht einmal, seine Neugier zu verhehlen, sondern drehte sich in seinem Sitz zu mir her.
»Wer war der andere Typ?«, erkundigte sich Tasker plötzlich.
»Wovon redest du?«
»Von dem Kerl, der sich da rumgedrückt hat. Gut, ich weiß, dass ich nicht mehr der Jüngste bin, aber ich brauche niemanden, der bei mir Händchen hält, Raker. Als Babysitter habe ich immer noch was drauf, Ehrenwort.«
»Ich kapiere kein Wort.«
Eine verständnislose Pause. »Ich dachte, du hättest ihn geschickt.«
»Wen?«
»Als ich dort ankam, war da ein Typ im Garten. Er hat einen Dienstausweis gezückt und gesagt, er hätte alles im Griff.«
»Ein Bulle?«
»Ja. Hast du ihn geschickt?«
»Nein. Wie hieß er?«
»Keine Ahnung. Seinen Namen hat er mir nicht verraten.« Offenbar bewegte sich Tasker. Im Hintergrund konnte ich eine Autohupe hören. »Die Sache ist …«
»Was?«
»Ich hätte schwören können, dass er gerade im Haus gewesen war. So, als hätte er drinnen etwas erledigt und dann wieder abgeschlossen. Er wirkte nervös. Ich habe versucht, nicht darauf zu achten, weil ich dachte, dass er von dir kommt.«
Furcht stieg in mir auf und schnürte mir die Brust zu. »Wie sah er denn aus?«
»Mittelgroß. Dunkles Haar.«
»Sonst noch was?«
»Er hatte so eine Marotte.«
»Marotte?«
»Dauernd hat er an seinem Ehering rumgefummelt.«
Und da traf es mich wie ein Hammerschlag.
Bei meinem ersten Besuch auf dem Revier hatten Davidson und ich auf dem Parkplatz gewartet, während Phillips sein Handy aus dem Auto holte.
»War er Schotte?«
»Ja.«
»Hast du gesehen, was für ein Auto er fuhr?«
»Ja«, erwiderte Tasker. »Einen roten Ford Mondeo.«
So ein Auto hatte Phillips.
Ebenso wie der Mann, der Jills Haus beobachtet hatte.
63
Wir schliefen abwechselnd etwa anderthalb Stunden lang und warteten darauf, dass es hell wurde, damit wir uns im Wald besser zurechtfinden konnten. Um halb sechs lichtete sich die Wolkendecke, und das erste Tageslicht zeichnete sich am Himmel ab. Also stiegen wir aus und liefen auf den etwa zwanzig Meter entfernten Zaun zu. Streckenweise hatte sich der verrostete Maschendraht in eine bröckelige braune Masse
Weitere Kostenlose Bücher