Blutinsel
als freier Mann verlassen können.
Diese infernalischen Schmerzen in seinem Bauch raubten ihm den Verstand. Wahrscheinlich waren mehrere Rippen gebrochen, und hätte Frank Duval, sein langjähriger Zellengenosse, ihn einfach an der Unfallstelle zurückgelassen, so würde er längst wieder in Cedar Junction sitzen und auf seinen neuen Prozess warten. Immerhin war er bei der Flucht und bei den Morden an den Wachmännern dabei gewesen. Und bei seiner Vergangenheit würde ihm niemand glauben, dass er unschuldig am Tod der Wachleute war.
Frank Duval war beinahe zwölf Jahre jünger als Tyler und stammte aus Boston, wo er geboren und auch aufgewachsen war, bis man ihn auf Nantucket Island nach einem Raub mit Todesfolge auf einen Geldboten verhaftete und nach Cedar Junction gesteckt hatte. Fünfundvierzig Jahre sollte er dort auf die Freiheit warten. Mit Tyler teilte er sich eine Zelle und der brummige, aber gutmütige Mann aus Maine wurde für ihn nach anfänglichen Startschwierigkeiten zu einem väterlichen Freund, der ihn vor den reißenden Wölfen im Knast bewahrte. Auch wenn Tyler nicht zu den durchgeknalltesten und gefährlichsten Knastis in Cedar Junction gehörte, so hatte er sich dennoch einen hohen Rang erdient, der ihn nahezu unantastbar machte. Und dabei war er nicht einmal brutal oder aggressiv, nein, im Gegenteil, Wesley Tyler war eher ein ruhiger und fügsamer Gefangener, der den Rest der Meute ignorierte und der sich aus allen Konflikten heraushielt. Vielleicht lag sein Standing innerhalb der Knastgesellschaft einfach nur daran, dass man hinter seinem Rücken munkelte, er sei noch immer im Besitz von dreißig Millionen in Gold. Duval hatte zweifellos von seinem väterlichen Freund im Knast profitiert. Auch er wurde von den unterschiedlichen Gruppen, die sich in dem Mikrokosmos hinter Gittern gebildet hatten, weitestgehend in Ruhe gelassen.
Freundschaft gepaart mit einer gehörigen Portion Dankbarkeit waren es gewesen, die Frank Duval dazu veranlasst hatten, den schwer verletzten Kumpel nicht einfach in seinem Schicksal zurückzulassen. Gemeinsam hatten sie sich bis ans Ende von Walepole durchgeschlagen, wo sie in ein Ferienhaus einbrachen, das offenbar seit längerer Zeit nicht mehr genutzt worden war. Und diesmal stand Tyler entgegen seiner sonstigen Erfahrung das Glück zur Seite, denn neben reichlich passenden Klamotten fanden sie einen Führerschein mit einem Passbild, das Duval sehr ähnlich war, ein paar Dollar Münzgeld und die Schlüssel eines Ford Pinto, der mit halbvollem Tank in der Garage stand.
Unbehelligt waren sie bis nach Old Orchad Beach gefahren und hatten sich in das Motel eingemietet, in dem sie die Nacht und den darauffolgenden Tag verbrachten.
» Wenn es dir morgen nicht besser geht, dann werde ich irgendwo einen Arzt auftreiben « , sagte Duval, nachdem die schweren Atemzüge Tylers in ein rasselndes Stöhnen übergingen. Er saß am Fenster und spähte durch den schmalen Schlitz des Vorhangs hinaus auf den Parkplatz des Motels.
» Es geht schon « , stammelte Tyler. » Meine Rippen sind gebrochen, das schmerzt höllisch, aber ich werde es überleben. «
Duval erhob sich von seinem Stuhl und trat neben das Bett. Er schenkte ein Glas Wasser ein und nahm drei Aspirin aus der Packung, die er auf dem Weg in einer Drogerie besorgt hatte. Er wartete, bis sich die Tabletten im Wasser auflösten, beugte sich zu dem Verletzten hinab und hob vorsichtig seinen Kopf an.
» Was ist das? « , fragte Tyler.
» Gegen die Schmerzen « , antwortete Duval und hielt das Glas an Tylers Lippen.
U.S.-Marshall Service, District Headquarters, Boston,
12 . März 2007 , 17 . 55 Uhr (Montag)
An der Wand im Büro der US -Marshalls standen zwei hölzerne Stellwände, an denen Bilder, Notizen und Vergrößerungen von Aktenauszügen aus den Strafakten der Flüchtigen scheinbar chaotisch, jedoch für Rodger Donovan in einer eigenen, durchschaubaren Ordnung mit kleinen Reißnägeln festgemacht waren. Auf einem daneben stehenden Flipchart hatte er mit rotem Filzstift die Städte markiert, aus denen Lukovic, Simmrock, Duval und Tyler stammten.
Mittlerweile hatte er die Akten der Ausbrecher auf das Gründlichste studiert. Nur wenn man genau wusste, hinter wem man eigentlich her war, konnte man wissen, wo man nach seiner Zielperson suchen musste. Rodger Donovan war ein kühler und überlegter Pragmatiker, ganz im Gegensatz zu seinem impulsiven und zuweilen ungestümen dunkelhäutigen Kollegen Noah Fleischman,
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