Blutkirsche
Fliegenlarven und Maden siedelten auf dem ganzen Körper. Aus den Augenhöhlen krochen Käfer. Die straff anliegende Gesichtshaut wirkte wie Pergament. Weiße Knochen traten an Unterarmen und Schienbeinen unter dem ehemals festen Fleisch hervor. Durch den Wasserverlust im Körper sahen die Haare des Toten und seine Fingernägel aus, als ob sie gewachsen seien.
„Wie ich das beurteile, liegt der Leichnam bestimmt schon über ein halbes Jahr in der Beetkiste!“, sagte Anne. „Soweit ich es erkennen kann, ist es ein Mann.“
„Ja?“, fragte Marco, verwundert darüber, woher seine Chefin dies so genau einschätzen konnte.
Dass bei Frau Fiori etwas nicht stimmte, hatte Anne ihr Bauchgefühl gesagt. Der Fund bestätigte dies und übertraf sogar die schlimmsten Erwartungen. Eine ordentliche Bestattung sah anders aus. Jemand hatte etwas zu verbergen.
Dies war einmal ein Mensch gewesen, der Familie, Freunde, der geatmet, ein Leben hatte. Und jemand hatte ihm sein Leben gewaltsam genommen, überlegte Anne.
Bämpfle stützte sich müde auf eine Schaufel. „Das ist noch nicht alles. Sehen Sie mal, was wir unter der Trockenmauer gefunden haben.“
Der Kollege hatte die Untersuchung des Gartens unterbrochen. Anne konnte bemerken, dass er mit dem Ergebnis zufrieden war.
Auf der nassen Wiese vor der Mauer lagen eine Axt und ein Jogginganzug, schon eingetütet. „An dem Mikrofaseranzug ist Blut. An der Axtschneide ist mit bloßem Auge nichts zu erkennen. Der Stiel ist ganz aufgequollen, das kann nicht nur von der nassen Erde sein, hat vielleicht im Wasser gelegen, bevor er versteckt wurde. Nur gut, dass der Stiel lackiert ist, so können wir vielleicht noch die Fingerabdrücke feststellen.“
Marco hob die Plastiktüte auf und musterte den Inhalt genau. „Aber es muss etwas dran sein, es muss die fehlende Tatwaffe sein, warum sonst hätte jemand sie unter der Mauer vergraben sollen?“
Anne nickte ihrem Assistenten zu: „Ja, das sehe ich auch so!“ Sie lobte die Beamten der Spurensicherung. „Gute Arbeit! Jetzt holt mal den Rechtsmediziner, damit wir die Leiche bergen und identifizieren können.
|170| Ich denke, wir haben eine Mörderin gefunden.“
Ihr Diensthandy klingelte. „Hier Wieland, was gibt’s? Wir kommen sofort. Halten Sie sie unter irgendeinem Vorwand auf, bis wir da sind!“
„Was ist denn los, Chefin?“, fragte Marco verblüfft.
„Das war die Intensivschwester vom Katharinenhospital. Eine Frau Fiori will zu Natalie. Auf los, wir müssen uns sputen. Hoffentlich kann Schwester Margret die Fiori aufhalten!“
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Wilma saß vor der Intensivstation. Die Schwester hatte sie gebeten zu warten, da Natalie zuerst gebettet würde und dann noch ihre neue Medikation erhalten müsse. Um sie zu dosieren, werde der Stationsarzt gleich eintreffen. Wilma versuchte, einen Blick auf Natalie zu erhaschen, aber ein Plastikrollo verdeckte die Glasscheibe.
Obwohl Wilma immer nervöser wurde, rief sie sich zu Geduld auf. Nur nicht auffallen! Sie überlegte hin und her. Die ganze Geschichte hatte sich zugespitzt. Alles wäre wie bisher weitergelaufen, wenn sie sich nicht eingemischt hätte, nachdem sie die Laubentür von Harry Kohl aufgestoßen hatte. Ich könnte mir jetzt noch in den Hintern beißen, ärgerte sich Wilma.
Sie hatte die abgemagerte Natalie fast nicht mehr wiedererkannt. Aber dann erinnerte sie sich, dass die Kleine früher ein moppeliges Kind mit Brüsten und einem kleinen Bäuchlein gewesen war.
Wilma erfasste die Situation sofort. Ein Mann, nur spärlich mit Boxershorts bekleidet, hatte das Mädchen in eine Ecke gedrängt und versuchte gerade, seine Jeans herunterzureißen. Zwar sah Wilma den Mann nur von hinten, aber es war Kohl, der: „Na mach‘ schon, du bist doch sonst nicht so“, brummte. Die weit aufgerissenen Augen von Natalie flehten Wilma an. Sie wimmerte: „Nein, nein.“
Im ersten Augenblick wollte Wilma fluchtartig die Laube verlassen, aber dann stieg das Dejà-vu vor ihren Augen auf – Bilder, die sie glaubte vergessen zu haben. Dieses Schwein! Wollte sich an seiner eigenen Tochter vergehen!
„Hören Sie sofort damit auf! Sie Dreckskerl!“, schrie Wilma.
Kohl ließ von Natalie ab, drehte sich um und musterte seine Gartennachbarin. Er schien nicht im Geringsten schuldbewusst zu sein.
„Was tun Sie denn hier? Kümmern Sie sich lieber um Ihre eigenen Sachen. Es ist ja nichts geschehen.“ Sein hochrotes Gesicht verzog sich hämisch. „Ich weiß, was bei
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