Blutköder
Städte, Straßen, Häuser, Müllcontainer und Elternabende waren es, wo das Böse lauerte. In der Wildnis galt nur das häufig gnadenlose, aber niemals heimtückische Gesetz der Götter.
Nun hatte der Glacier seine keiner Moral unterworfene Reinheit verloren. Etwas Störendes ging um. Wären es nur die kranken und feindseligen Handlungen von Menschen gewesen, Anna hätte nicht so empfunden. Doch daran lag es nicht. Die Natur selbst benahm sich unnatürlich. Der Bär, der ihr Lager verwüstet hatte, hatte sich unheimlich und gar nicht bärenartig verhalten. Wenn Menschen böse waren, machten sie, falls man der christlichen Lehre glauben konnte, lediglich von ihrem gottgegebenen Recht auf einen freien Willen Gebrauch. Wurde die Natur hingegen persönlich, war eindeutig eine Macht im Spiel, die man als Satan bezeichnen mochte.
Kein Wunder, dass sie Joan Rand so nah gekommen war, dachte Anna. Die Forscherin war der einzige Mensch, mit dem sie über ihren Bären sprechen konnte. Joan war dabei gewesen. Joan hatte es auch gespürt. Andere, selbst Molly oder Paul, würden sie nur für eine verängstigte Touristin halten, die Tieren menschliche Eigenschaften zuschrieb und übertrieb. Eine von der Sorte, die mit fliederfarbener Tinte Berichte über Grizzlys verfasste, die Igel umarmten.
Die nächste Stunde verbrachte Anna damit, nach Fifty Mountain zu reiten, da sie hoffte, Bill McCaskil könne inzwischen zurückgekehrt sein. Aber außer einer kurzen Unterhaltung mit zwei Touristen aus dem Staat Washington, einem aufgesetzt fröhlichen Mann mittleren Alters und seiner ernsten und unscheinbaren Begleiterin, wie Anna annahm, seine Ehefrau, sprach sie mit niemandem. Der Mann aus Washington begeisterte sich, er habe anderthalb Kilometer weiter einen Elch à la »Boone und Crockett« auf dem Pfad gesehen, den Anna sich unbedingt anschauen müsse. Als Anna und Ponce die angegebene Stelle erreichten, hatte sich das Tier bereits aus dem Staub gemacht. Anna war ein wenig enttäuscht. Noch nie hatte sie gehört, dass jemand einen Elch mit »Boone und Crockett« verglich. Doch da es sich bei Daniel Boone und Davy Crockett um Westernlegenden handelte, musste es ein kapitaler alter Bulle gewesen sein.
Offenbar war Bill McCaskil dem Beispiel des Elchs gefolgt. Er war nicht da, und auch sein Rucksack hing nicht an dem Baum vor seinem Zelt. Anna war nicht sicher, was sie ihn eigentlich hatte fragen wollen, aber sie musste etwas mit ihrer Zeit anfangen. Und obwohl es so völlig untypisch für sie war, dass es ihr rätselhaft erschien, wollte sie mit anderen Menschen zusammen sein.
Trotz der Einwände seines Sohnes und von Harry Ruick war Lester Van Slyke zum Flattop Mountain zurückgekehrt. Gerade richtete er sich wieder häuslich auf seinem verlassenen Lagerplatz ein, als Anna von McCaskils Zelt kam.
Nach dem anstrengenden achtzehn Kilometer langen Fußmarsch war Lester fahl im Gesicht – ein Herzkranker, der in nagelneuen Stiefeln herumlief. Er hatte, vermutlich auf Harry Ruicks Beharren, ein Funkgerät der Nationalen Parkaufsicht bei sich. Ansonsten schien er ebenso schlecht für die Anforderungen des Zeltens in der Wildnis gerüstet zu sein wie eh und je. Nein, er wolle nicht mit Anna sprechen, nicht erklären, warum er darauf bestand, in der Wildnis zu bleiben, und auch nicht das gewalttätige Verhalten seiner verstorbenen Frau erörtern. Nach einer Viertelstunde beschloss Anna, ihn in Ruhe zu lassen und sich auf den Weg zu der kleinen Wiese zu machen, wo sie, Joan und Rory ihr erstes Lager aufgeschlagen hatten.
Alles sah aus wie vor dem Bärenangriff. Neue Zelte waren aufgebaut worden, allerdings nicht an derselben Stelle wie die alten, sondern auf der anderen Seite des flachen Felsens, so als hätte Joan, oder eher Rory, in einem Anfall von Aberglauben beschlossen, neue Wege zu beschreiten. Lebensmittel und alles, was Bären sonst noch anlocken konnte, waren hoch oben in einem Baum befestigt. An einem anderen als dem, wo die Leiche von Rorys Stiefmutter gehangen hatte.
Vom Forscherteam fehlte jede Spur. Anna tränkte Ponce an dem kleinen Bach, der sich über die Wiese schlängelte, und suchte auf ihrer topografischen Karte die Stelle, die Joan für die nächste abzubauende Haarfalle markiert hatte. Dann schwang sie sich wieder in den Sattel und machte sich auf den Weg. Ponce, der sein Tagwerk irrtümlicherweise für beendet gehalten hatte, schien nicht sehr erfreut.
Sein Missmut bekam weitere Nahrung, als Anna mit den
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