Blutköder
konzentrieren. Anna zog frische Latexhandschuhe an und untersuchte die zerrissenen Beutel, die von dem makabren Vorratslager übrig geblieben waren. Sie hatte nur geringe Zweifel daran, dass sich das Blut als das von Carolyn Van Slyke entpuppen würde. Wie sie bereits auf dem Baum festgestellt hatte, hatten die Plastikbeutel ihr bis auf die abscheulichen Schmierer kaum etwas mitzuteilen. Das Labor mit seinen hoch technisierten Gerätschaften würde da vermutlich weiterkommen.
Der blaue Sack war ein wenig aufschlussreicher. Graugrüner Staub und eine hellgelbe Substanz von zarter, fast funkelnder Beschaffenheit, die an Pollen erinnerte, allerdings stärker reflektierte, bedeckten den Stoff. Was immer es auch sein mochte, es war erst vor Kurzem an den Sack geraten. Vielleicht konnte das Labor ja daran erkennen, wo im Park der Sack benutzt worden war, bevor man ihn als Aufbewahrungsbeutel für Leichenteile missbraucht hatte. In der Zivilisation konnte eine Information wie diese zum Täter führen. Hier war die Zeit der entscheidende Faktor. Es würde mehrere Tage, also viel zu lange, dauern, den Sack erst nach West Glacier und dann ins Labor und wieder zurückzubringen. Denn bis dahin war der Mörder sicher »unbekannt verzogen«.
Nachdem Anna die Beweisstücke wieder verstaut und sich der Gummihandschuhe entledigt hatte, wickelte sie ihr zweites Brot aus. Dass ihre Finger nach dem Talkumpuder an der Innenseite der Handschuhe rochen, verdarb ihr die Freude an der Erdnussbutter ein wenig. Ohne darauf und die auf ihr herumkrabbelnden Fliegen zu achten, lehnte sie sich an den Baumstamm, wo Ponce angebunden war, und lauschte den beruhigenden Rupfgeräuschen, als das Pferd seinen Imbiss genoss.
Der Mörder hielt sich noch im Park auf. Wenn nicht, hatte Annas Intuition sich endgültig in Verfolgungswahn verwandelt. Natürlich war auch das durchaus möglich. Obwohl sie in der Sonne und in einer Welt saß, in der sie sich fast ihr ganzes Erwachsenenleben lang wohl und geerdet gefühlt hatte, ertappte sie sich zu ihrem Ärger dabei, dass sie bei jedem Geräusch zusammenzuckte und nach Luft schnappte. Ständig suchte ihr Blick den Horizont nach Gefahren ab.
Auch wenn die Wildnis an erster Stelle kam, war sie nicht das Einzige, mit dem Anna im Moment auf Kriegsfuß stand. Mit der möglichen Ausnahme von Joan Rand hatte sie seit ihrer Ankunft im Glacier mit keinem anderen Menschen eine auch nur annähernd freundschaftliche Beziehung geknüpft.
Sie dachte an Sheriff Paul Davidson, ihren – ihren was? Ihren Freund? Ihren Liebsten? Oder einfach nur ihren Liebhaber? Paul war ein guter Mensch und einmal – gedanklich vor langer, langer Zeit, dem Kalender nach vor zwei Wochen – hatte Anna sich vorgestellt, wie es sein mochte, sich in ihn zu verlieben. Seit Beginn ihrer Abenteuer im Glacier hatte sie jedoch kaum an ihn gedacht und trotz ihrer guten Vorsätze nicht einmal Molly angerufen. Dieser Fall hatte etwas an sich, das dafür sorgte, dass sie sich von ihren Mitmenschen absonderte.
Anna schnaubte. Ponce, der offenbar von einem Gesprächsangebot ausging, schnaubte zurück. »Das heißt, ich sondere mich noch mehr ab als gewöhnlich«, meinte Anna zu ihm. Sobald sie in die menschliche Sprache wechselte, verlor Ponce das Interesse und widmete sich wieder dem Grasen.
Menschen brauchten die Stammesgesellschaft. Isolation war eine so strenge Form der Bestrafung, dass man sie selbst in Gefängnissen nur bei schweren Regelverstößen verhängte. Wer sich zurückzog, hatte für gewöhnlich darunter zu leiden. Anna war sich schon immer der winzigen Risse in dem, was gemeinhin als Normalität durchging, bewusst gewesen, wenn sie absichtlich zu lange allein blieb – eingeschlossen in den Elfenbeinturm aus Knochen, den man als Schädel bezeichnete.
Anna drehte sich um und wandte dem Pfad den Rücken zu, um mit wachsamem Blick den Wald zu beobachten. Dabei überlegte sie, wie sie langsam den Rückzug antreten konnte. Das Scharren eines nicht zu sehenden kleinen Waldtieres ließ ihren Puls in die Höhe schnellen, und ihr wurde klar, wo das Problem lag. Sie war ausgestoßen und obdachlos gemacht worden. Das hieß nicht, dass ihr jemand Haus, Katze und Hund in Mississippi weggenommen hätte – das von der Parkverwaltung zur Verfügung gestellte Zuhause, das sie im Natchez Trace Parkway bewohnte, war nur eine in einer Reihe verschiedener Stationen. Ihre Heimat, wo sie sich sicher und geborgen fühlte, war immer die Wildnis gewesen.
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