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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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und legte Joan ihre grausigen Funde zur wissenschaftlichen Untersuchung vor.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung von forensischer Pathologie beim Menschen«, warnte Joan, als sie wie zwei alternde Feen am Rand des Felsens knieten.
    »Nicht alles Übel ist menschlich«, entgegnete Anna ins Blaue hinein. Das Unbehagen, das die Wildnis des Glacier bei ihr auslöste, nahm zu.
    »Indirekt hat der Mensch immer seine Hand im Spiel«, antwortete Joan. Entweder hatte sie eine zynische Seite, die Anna noch nicht kannte – oder Annas übermächtiges Gefühl, fehl am Platz zu sein, wirkte ansteckend.
    Anna widersprach ihr nicht. »Schau dir die Fetzen von dem blauen Sack an«, meinte sie. »Sagen dir die staubigen Stellen und dieses gelbe, pollenähnliche Zeug etwas? Soweit ich mich erinnere, ist mir hier nichts untergekommen, das solche Spuren hinterlassen würde. Nicht, dass ich darauf geachtet hätte«, räumte sie ein.
    Joan schob ihre Brille ins Haar, um besser aus der Nähe sehen zu können. Sie hielt den Stoff vorsichtig zwischen behandschuhten Fingern und Daumen und betrachtete ihn im kalten, geräuschvollen Licht der Laterne. Nach einer Weile hielt sie inne und nahm eine große Lupe à la Sherlock Holmes aus ihrem Rucksack. »Schade, dass ich mein Mikroskop nicht dabei habe«, stellte sie fest und musterte den Stoff noch einige Minuten lang.
    »Für mich ist das einfach nur Staub«, verkündete sie schließlich und gab Anna den marineblauen Sack zurück. »Der feine graugrüne ist vielleicht tonhaltig – alpines Geröll aus sehr großer Höhe. Von einem Berggipfel. Das Zeug könnte aber genauso unter dem Bücherregal in meinem Schlafzimmer vorkommen. Laboruntersuchungen würden dir verraten, woraus es besteht und möglicherweise sogar, von welcher Gesteinsart es stammt. Doch anders als allgemein angenommen sind Felsen nicht unbeweglich. Sie rutschen, fallen, stürzen ab oder werden von Flüssen mitgeführt.
    Mit dem gelben Staub ist es eine andere Sache. Ich bin zwar nicht hundertprozentig sicher, glaube aber nicht, dass wir es mit Pollen zu tun haben. Ich halte es eher für Schuppen, die winzigen, zarten Dinger, die man auf den Flügeln von Motten und Schmetterlingen findet.«
    Für Anna war das nicht so abwegig, wie es klang. Auf der Isle Royale hatte sie beobachtet, wie sich vor den Fliegengittertüren der meisten Hütten massenweise die Schmetterlinge scharten. Sie waren auf Salze aus, hinterlassen von schlaftrunkenen Touristen, die einfach auf die Vortreppe pinkelten, anstatt durch die Dunkelheit zur Latrine zu stolpern.
    »Etwas in diesem Sack hat Schmetterlinge angelockt? Unmengen von Schmetterlingen?« Noch während Anna diese Worte aussprach, war ihr klar, wie unlogisch sie klangen. Selbst wenn der Sack eine Armee von Schmetterlingen angezogen hatte, verloren sie keine Schuppen, wenn sie mit ihren winzigen Flügeln schlugen.
    »Nicht unbedingt. Oberhalb der Baumgrenze wimmelt es hier von Juni bis September von Dickkopffaltern. Die Motten legen die Eier in den Great Plains, wo die Raupen heranwachsen. Dann wandern sie zum Fressen in die Rocky Mountains. Im Herbst kehren sie zurück, legen Eier und sterben. Es gibt nicht mehr so viele wie früher. Wenn in Iowa Felder mit Insektenvernichtungsmitteln besprüht werden, verlieren wir in Montana Motten. Ein Argument für eine weltweite Umweltpolitik, das die Politiker vor Ort nicht hören wollen. Das und der weiße Staub bringen mich zu der Vermutung, dass der Sack irgendwo oberhalb der Baumgrenze abgestellt oder herumgeschleppt worden ist. Auf dem Mount Stimpson, dem Mount Cleveland oder, ach, keine Ahnung, irgendeinem eben. Die Motten sammeln sich zwischen zweitausendeinhundert und zweitausendachthundert Metern und bevorzugen südliche und südwestliche Lagen.« Joans Blick wanderte über die dunklen, schartigen Bergkämme, die rings um den Flattop Mountain in den Nachthimmel ragten.
    Anna, die künstliches Licht und Lärm satt hatte, schaltete die Laterne ab. Wortlos saßen sie in der plötzlichen angenehmen nächtlichen Stille und betrachteten die Berggipfel, von denen der blaue Sack vermutlich kam.
    Der Mond nahm zwar ab, schien jedoch kräftig in der dünnen, klaren Luft über den Rocky Mountains. Die Bäume auf den Berghängen waren tintenschwarz. Ein Stück darüber fingen sich die Strahlen des Mondes in schmalen Gletschern und dem hellen, zerborstenen Geröll, das den Großteil seines Lebens unter einer Schneedecke verbrachte. Je länger Anna hinschaute,

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