Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
desto heller wurden die Gipfel, bis sie in ihrer Pracht eine heilende Ehrfurcht in ihr entfachten. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Menschen in diese Gegend zieht.«
    Joan lachte auf.
    »Du klingst so wehmütig. Es ist wirklich eine gottverlassene Gegend. Kaum jemand wagt sich dort hinauf. Außer Bergziegen.«
    »Was ist mit Pfaden?«, fragte Anna.
    »Nicht in dieser Höhe.«
    »Nur Ziegen? Ich dachte, Bären ziehen sich zum Winterschlaf in höhere Regionen zurück.«
    »Höhere. Aber nicht so hoch. Allerdings steigen sie im Sommer hinauf. Die Motten sind für die Grizzlys eine wichtige Eiweißquelle. Sie durchwühlen ganze Geröllhänge, drehen die Felsen um und fressen die Motten. Verstehst du jetzt, was ich meine? Wer Weizen in Minnesota besprüht, verursacht den Hungertod eines Grizzlys in den Rockies. Wer hätte das gedacht?«
    »Inzwischen ist es doch bekannt«, wandte Anna ein. Beide sparten sich den Zusatz »Und wen interessiert es?«. Nur eine verschwindende Minderheit.
    »Unser Mörder war aus irgendeinem Grund dort oben«, stellte Anna nach einer Weile fest. »Und da er sich offenbar nicht im Park aufhält, um sich an der Natur zu erfreuen – zumindest nicht in unserem Sinne –, muss er dringende Gründe haben, so weit von den ausgetretenen Pfaden abzuweichen. Ponce wird gar nicht glücklich sein, wenn ich ihm erzähle, wo es morgen hingeht.«
    Annas Funkgerät bereitete weiteren Mutmaßungen ein Ende.
    »Sie hatten das richtige Gefühl«, meldete Ruick, nachdem sie die vorgeschriebenen Codenummern ausgetauscht hatten. »Die auf der zweiten, in der Militärjacke gefundenen topografischen Karte sichergestellten Fingerabdrücke stimmen mit denen überein, die Bill McCaskil bei seiner Verhaftung wegen Betrugs abgenommen wurden. Offenbar hatte das Opfer seine Jacke an, als es ermordet wurde.«

16
    Anna brach nicht bei Morgengrauen nach Fifty Mountain auf, denn sie hatte strikte Anweisung von Harry, zu warten, bis die Kavallerie in Form von vier Parkpolizisten aus dem Tal eintraf. Das Lager auf der Wiese mit dem Altarfelsen, die offenbar unter einem schlechten Stern stand, wurde abgebrochen. Aus Gründen der Notwendigkeit, und weil Joan es nun, da Anna und Buck anderswo gebraucht wurden, so wollte, machten sie und Rory sich allein auf den Weg, um die nächste Haarfalle auf der Liste zu versorgen. Sie befand sich am östlichsten Ende des Flattop Mountain, unweit der Stelle, wo der Mineral Creek und der Cattle Creek zusammentrafen. Nachdem sie fort waren, packte Anna ihre Ausrüstung auf Ponces Rücken. Sie wusste nicht, wann sie sich wieder als produktives Mitglied dem Forscherteam anschließen würde.
    Allerdings hatte sie nichts gegen die Verzögerung einzuwenden, die es bedeutete, mit Buck gegen Mittag in gemächlichem Tempo aufzubrechen. Etliche Knochenbrüche und Stichwunden hatten ihr nämlich den Spaß daran verdorben, zwielichtigen Gestalten auf Augenhöhe begegnen zu wollen. Kein Polizist, der bei klarem Verstand war, ließ sich auf einen fairen Kampf mit einem Straftäter ein.
    Bei ihrem Eintreffen saßen der Polizeichef und vier andere Männer, die Anna nicht kannte, mit Lester Van Slyke im Essbereich und unterhielten sich leise. Während Anna Ponce ans Geländer band, kam Ruick auf sie zu.
    »Der Vogel ist ausgeflogen«, verkündete er und lehnte sich, eine Wasserflasche lässig in der Hand, ans Geländer. Bis jetzt hatte er in jeder Situation, in der sie ihn erlebt hatte, entspannt gewirkt und schien alles im Griff zu haben. »Laut Les war er gestern Abend noch hier. Er hat beobachtet, wie er zur Latrine ging. Soweit Les feststellen konnte, hat er sich weder etwas zu essen gemacht noch mit jemandem gesprochen. Und dann hat Les gesehen, wie er mit vollem Gepäck in die Dunkelheit verschwunden ist.«
    »Wann war das?«, fragte Anna.
    »Zwischen acht und halb neun.« Ihre Blicke trafen sich. Anna war zu demselben Schluss gekommen. »Er wusste, dass wir mit ihm reden wollten.«
    »Les hat ein Funkgerät«, merkte Anna an.
    »Diesen Gedanken hatte ich auch schon. Glauben Sie, Les hat es ihm erzählt? Eine Art Verschwörung? Ein Auftragskiller?« Als Ruick lachte, musste Anna einstimmen. Außerhalb der vier Wände eines Kinos klangen die Sätze absurd. Lester Van Slyke aus Seattle, Washington, sollte einen Verbrecher, der noch nie für Geld jemanden umgebracht hatte, dafür bezahlt haben, seine gewalttätige Ehefrau in der Wildnis von Montana zu ermorden?
    »Jeder Mensch hat seine eigene

Weitere Kostenlose Bücher