Blutköder
anderen zusammentraf und ihm die Aufgabe zufiel, die schweren Stacheldrahtrollen und die Rucksäcke des Forscherteams zum Standort der nächsten Haarfalle zu tragen. Anna führte Ponce am Zügel und ging neben Joan her. Rory blieb aus nur ihm bekannten Gründen ein Stück zurück. Buck gesellte sich zu ihm, doch die beiden wechselten kein Wort miteinander. Anna nahm ihnen diese Entscheidung nicht übel. Es lag nicht daran, dass sie Rory nicht leiden konnte. Der Grund war eher, dass er eine bedrückend düstere Stimmung verbreitete, so als hätte eine Neurose oder eine tiefe Kränkung ein kleines schwarzes Loch in ihn gebohrt, das nun nach und nach Fröhlichkeit und Vernunft in sich aufsaugte.
Nach einem Tag harter Arbeit in der rauen Natur war Joan guter Laune.
Der Nebel, der sich beim Berichteschreiben und Verpacken von Proben fürs Labor über sie gesenkt hatte, hatte sich gelichtet.
»Bei dieser Falle war nicht viel zu holen«, meldete sie. Ihr Gesicht war so erhitzt, dass ihre Stirn glänzte und die obere Hälfte ihrer Brillengläser beschlagen war. Das und die Erlenblätter in ihrem Haar ließen sie wie den Inbegriff der verrückten Wissenschaftlerin aussehen. »Kein Kot. Ein paar Fellstückchen. Aber wenigstens hat niemand den Liebesduft abgerissen. Offenbar ist er hoch genug aufgehängt worden.« Vergnügt fachsimpelte Joan weiter über Stacheldraht, Laborberichte und weitere Einzelheiten aus dem Alltag der Parkverwaltung. Anna hörte nur mit halbem Ohr zu, genoss Joans Gesellschaft, fühlte sich jedoch unzufrieden. Nach einer Viertelstunde wurde das Vorwärtskommen beschwerlich, der Boden uneben und das Gebüsch immer dichter, sodass das Gespräch einem schweren Atmen und angestrengten Keuchen Platz machte. Ponce rächte sich an Anna für die Plackerei, indem er ihr immer wieder seine lange, knochige Nase in den Rücken stieß, und zwar in so unregelmäßigen Abständen, dass es sie immer wieder aufs Neue überraschte.
Die nächste Haarfalle sollte einen Dreiviertelkilometer entfernt von der alten aufgebaut werden. Als der Draht gespannt, der Liebesduft hoch und verlockend am Baum befestigt und das verrottete Holz aufgetürmt und mit dem unwiderstehlich widerlichen Blutköder benetzt war, war es kurz vor sechs Uhr abends. Die Arbeit reinigte Annas Seele ebenso wie die von Joan, sodass es ihr gelang, den Weg zum Lager frei von düsteren Vorahnungen und finsteren Grübeleien zurückzulegen. Da sie sich abseits der ausgetretenen Pfade hielten, begegneten sie keinen Touristen, was Anna erleichterte. Für den Moment hatte sie ihren Frieden mit ihrer eigenen Wirklichkeit gemacht und keine Lust, sich in die anderer Menschen hineinziehen zu lassen.
In einem für sie untypischen Anfall von Zwischenmenschlichkeit erinnerte sie sich wieder an den fröhlichen Mann aus Washington, dessen seltsame Redewendung ihr so gefallen hatte.
Anna beschloss, den anderen die Anekdote nicht vorzuenthalten. »Heute habe ich einen lustigen Satz gehört. Ein Mann hatte einen kapitalen Elch gesichtet und ihn als ›Boone-und-Crockett-Elch‹ bezeichnet.« Joan und Buck starrten sie entgeistert an. »Wie Daniel Boone und Davy Crockett«, fügte Anna hinzu. »Ihr wisst schon, überlebensgroß.« Noch immer keine Reaktion. Geschenk zurückgewiesen. Anna war gekränkt.
»Sollen wir es ihr sagen?«, fragte Buck.
»Besser nicht«, erwiderte Joan. »Du kennst sie nicht so gut wie ich. Sie legt gerade eine ungewöhnliche Freude an der Gesellschaft von Zweibeinern an den Tag. Es wäre ein Jammer, sie ihr zu verderben.«
»Was wollt ihr mir sagen?«, erkundigte sich Anna.
»Sie besteht darauf«, meinte Joan.
»›Boone und Crockett‹ ist das höchste Lob für eine Jagdtrophäe«, erklärte Buck.
»Es gibt eine Bewertungsskala, die sich nach der Größe des Tiers richtet. Nun … nach der Größe des Kopfes. Daher die Bezeichnungen.«
»Der nette Mann hat sich den Elch also tot vorgestellt?« Anna war entsetzt.
»Und sich ausgemalt, wie er sich an seiner Wohnzimmerwand machen würde«, bestätigte Buck.
Erst eine gute Stunde später im Lager und gestärkt durch die Einnahme heißer Getränke, ergriff Anna wieder das Wort und sprach über die traurigen Themen, die sie beschäftigten.
Nachdem sie Buck und Rory weggeschickt hatte, denn ihre Ausführungen waren weder für die Ohren eines Fremden noch für die eines Jugendlichen bestimmt, drehte sie die zischende Gaslaterne weiter auf, stellte sie auf die breite ebene Fläche des Felsens
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