Blutköder
verworrene Logik«, sagte Anna, ebenso eine Antwort auf ihre Gedanken wie auf Ruicks Äußerung. »Es gibt zu viele Überschneidungen, um einen Zusammenhang auszuschließen.« Den Ellbogen dicht an Ponces Nüstern, stützte sie sich aufs Geländer. Hin und wieder spürte sie seinen Schweif auf ihrem Po und war froh, dass das Pferd für sie beide die Fliegen verscheuchte. »Vielleicht haben wir diesen Zusammenhang ja von der falschen Seite beleuchtet«, fuhr sie fort. Die Theorie entstand beim Sprechen. »Da Mrs Van Slyke unser Opfer ist, habe ich versucht zu ergründen, was McCaskil gegen sie gehabt haben könnte. McCaskil in der Rolle des Mörders: Entweder ist er in der Absicht hergekommen, sie aus nur ihm bekannten Gründen zu töten. Oder er hatte zufällig einen psychotischen Schub und hat sie deshalb umgebracht. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass der misshandelte Ehemann ihn angeheuert hat, um die Tat zu begehen. Was, wenn Mrs Van Slyke und McCaskil unter einer Decke gesteckt haben? Wenn ihre Beziehung für eine Scheidungsanwältin und einen Betrüger naheliegende Motive hatte? Als sie ermordet wurde, trug sie seine Jacke. Oder zumindest eine Jacke, in deren Tasche seine topografische Karte steckte. Vielleicht haben sie ja gemeinsam einen Plan ausgeheckt, der schiefgegangen ist. Dann stirbt Mrs Van Slyke. Ist McCaskil im Park geblieben, um die Sache zu Ende zu bringen? Er passt eindeutig nicht ins Bild eines Naturfreunds und Campers.«
»Und wer ist dann unser Mörder?«
»Keine Ahnung. Möglicherweise gab es ja eine Auseinandersetzung zwischen den Verbrechern.«
»Oder wir sind wieder bei Les. Wenn er nur nicht so …« Ruick warf einen Blick auf die Gruppe, die hinter ihnen auf dem Hügel saß, »… verdammt hilflos wäre, hätte ich schon längst einen Grund gefunden, um ihn festzunehmen.«
Ruick spritzte sich Wasser in den Mund und bewegte es hin und her, mehr des Gefühls wegen, als um seinen Durst zu löschen. »Was für ein Betrugskomplott könnte ein Städter hier durchziehen? Im Glacier gibt es weder Gold noch Silber, Edelsteine, Erdgas oder Öl. Einer der Gründe, warum man das Land in Ruhe gelassen hat, ist, dass niemandem ein Weg eingefallen ist, es zu Geld zu machen.«
»Holz?«
Ruick warf ihr einen Blick zu. Die Landschaft war nicht nur zu gebirgig, um die Stämme abzutransportieren. Hinzu kam, dass das Fällen und Stehlen von Bäumen eine Straftat war, die sich nicht mal eben unter der Hand begehen ließ. In einem Nationalpark, der täglich von Touristenhubschraubern überflogen wurde, wäre selbst eine klein angelegte Aktion spätestens innerhalb von vierundzwanzig Stunden gestoppt worden.
»Gut«, meinte Anna. »Seltene Pflanzen?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Wilderei?«
»Klar, das kommt vor. Aber warum sich die Mühe machen? Gleich auf der anderen Seite des Berges, in British Columbia, gibt es Ranchen, auf denen man ganz legal Elche, Bären und sonst noch alles Mögliche schießen kann. Und da die Tiere eigens dafür gezüchtet werden, kann man sicher sein, dass sie die passende Größe für Trophäen haben. Natürlich zählen sie bei den richtigen Jägern nicht. Bei denen gehört es nämlich zum Ehrenkodex, dass die Beute wild sein muss. Doch daran kann man sich bestimmt irgendwie vorbeimogeln.«
Da Ruick Annas sämtliche Vorschläge verworfen hatte, schwieg sie. Sie konnte nicht sagen, ob es in diesem Fall zu viele Hinweise und Verdächtige gab oder zu wenige. Warum dem Opfer das Gesicht verstümmeln – allerdings nicht genug, um eine Identifikation zu verhindern? Was konnte man in der Wildnis mühelos finden oder dorthin mitnehmen, um einen Schlag auszuführen, der zwar so heftig war, dass er das Rückenmark durchtrennte, aber dennoch den Schädel nicht zerschmetterte? Weshalb hatte das Opfer die Jacke eines Fremden getragen? Warum waren die Beteiligten – McCaskil, Lester und Rory – nicht sofort abgereist? Schließlich hatten sie wissen müssen, dass man sie möglicherweise verdächtigen würde. Warum bleiben, wenn sie die Täter waren? Warum bleiben, wenn der Mord nicht auf ihr Konto ging?
»Wir fragen den Mistkerl, sobald wir ihn haben«, meinte Ruick gelassen.
Anna hatte ihm den makabren Baumschmuck unweit des Fundorts von Carolyns Leiche ausführlich geschildert. Während sie dem Polizeichef die Einzelheiten beschrieb, bereute sie, dass sie die Angelegenheit am Funk erwähnt hatte. Zu viele Zuhörer.
Ruick nahm die zerrissenen, blutigen Beutel an sich und wurde
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