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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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auftauchen konnte, hin und her blickte. So erkundete sie den Fuß des Felsmassivs und stieß zwar auf große Mengen von Bärenkot, der jedoch mindestens zwei oder drei Tage alt zu sein schien. Die Haufen waren von den winzigen, zerbröckelten Chitinpanzern der Motten durchsetzt, der einzige Teil der Insekten, der keine Nährstoffe enthielt. Joan würde zwar enttäuscht sein, aber Anna beschloss, keine Zeit in das Einsammeln von Proben zu investieren.
    In den sauber ausgeleckten ovalen Gruben entdeckte Anna einige verstreute Motten. Großkopffalter waren nicht sehr beeindruckende kleine gelbe Geschöpfe mit zarten Flügeln. Wo die Jagd auf die Motten besonders erfolgreich gewesen war, hatten die gelben Schuppen Schmierer auf dem hellen Geröll hinterlassen. Also musste der blaue Sack an einer Stelle wie dieser abgelegt oder entlanggeschleift worden sein. Allerdings blieb der Grund dafür Anna ein Rätsel. Die Gletscherkreise waren trocken, windig, gefährlich und schwierig zu erreichen. Wer also lief freiwillig hier herum?
    Im nächsten Moment schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, der so schrecklich war, dass sie ruckartig innehielt. Bärenforscher zum Beispiel. Männer und Frauen mit einem überwältigenden Interesse am Ursus horribilis. Sie konnten sich ungehindert im Park bewegen. Und sie würden alles daran setzen, im Glacier zu bleiben, weil hier die Bären und ihr Arbeitsplatz waren, ganz gleich, wen sie auch umgebracht haben mochten.
    Anna setzte sich unsanft auf den Boden, ohne darauf zu achten, dass die scharfkantigen Steine versuchten, ihr das Hinterteil aufzuschlitzen. Carolyn Van Slyke war die Mutter eines Bärenforschers gewesen. Zugegeben, eines Freizeit-Bärenforscheranfängers. Allerdings war das eine Verbindung. Carolyn, eine Fotografin ohne Film, war ermordet und verstümmelt worden. Dann hatte man Stücke von ihr in einem Stoffsack verstaut, und zwar in einem, der mit Staub und Schuppen beschmiert war, welche wiederum von einer ausgesprochen abgelegenen Imbissbude für Bären stammten.
    Hatte Carolyn – versehentlich oder anderweitig – einen Bärenforscher im Glacier dabei fotografiert, wie er etwas Verbotenes für, gegen oder mit einem Grizzly tat? War sie getötet worden, um ihr den verräterischen Film wegzunehmen?
    Der Gedankengang, der mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch ihren Verstand raste, kam plötzlich zum Stillstand. Womit getötet? Und warum hatte der Täter ihr Gesicht verstümmelt? Und was konnte ein Wissenschaftler anstellen, das so schändlich war, dass dafür eine Zeugin sterben musste, um sie zum Schweigen zu bringen? Natürlich hatte ein Mensch viele Möglichkeiten, einen Bären zu belästigen. Die Sache war nur, dass er dabei unweigerlich den Kürzeren zog. Einen beängstigenden Moment lang fühlte sich Anna in das dunkle Zelt zurückversetzt, während der Bär das Lager verwüstete. Der oberflächliche, beinahe abgeheilte Kratzer an ihrer Schulter begann zu jucken.
    Ein Bär als Mordwaffe? War es denkbar, dass jemand, der sich in diesen Dingen auskannte, nachts in ein Lager schlich und es mit Liebesduft oder Blutköder präparierte, um eine Katastrophe heraufzubeschwören?
    Natürlich.
    Wäre Rory dazu in der Lage gewesen?
    Mühelos.
    Joan Rand, die sich in der Nacht an Anna geklammert und im Chor mit ihr geschrien hatte, war zum Glück frei von jeglichem Verdacht. Sie hatte nicht nur ein wasserdichtes Alibi, sondern war zur Tatzeit mit der ermittelnden Polizistin zusammen gewesen.
    Man konnte einen Bären auf diese Weise anlocken, auch wenn es dafür selbstverständlich keine Garantien gab. Dass der Bär jedoch jemanden töten würde, war weit hergeholt. Und dass er sich ein ganz bestimmtes Opfer aussuchen könnte, grenzte ans Absurde. Falls der Bär also absichtlich ins Lager gelockt worden und der dafür Verantwortliche bei klarem Verstand war, folgte daraus, dass er sie nur erschrecken oder, mit ein wenig Glück, eine von ihnen hatte verletzen wollen. Wenn man ziellose Böswilligkeit als Motiv ausschloss, kamen nur noch Rache an Anna, Joan oder vielleicht Rory – sofern er nicht der Täter war – oder das Ziel infrage, sie in Angst zu versetzen und zu vergraulen.
    Und zwar weil sie im Rahmen ihrer Untersuchungen herausfinden würden, was der Unbekannte im Schilde führte.
    Anna lachte so laut auf, dass das plötzliche Geräusch sie selbst zusammenzucken ließ.
    »Was zum Teufel haben wir denn getan?«, fragte sie die Felsen und Insekten. »Wir haben

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