Blutköder
Wenn er jetzt einen Herzanfall kriegt, können sie dort einen Rettungswagen rufen und die Sache der Polizei übergeben.«
Harry sprach so achtlos über ein Menschenleben, dass Anna lachen musste.
»Falls ich Rory je wirklich verdächtigt hätte, hätte ich ihn nie mit Joan zurück auf den Berg geschickt«, fuhr Harry fort. »Obwohl die Beweise nicht für eine Verhaftung reichen, gibt es Mittel und Wege.«
Anna nahm das Stichwort auf und berichtete von der Vermutung, die Lester Van Slyke gequält hatte, nämlich, dass Rory nach dem Bärenangriff auf ihr Lager nach Fifty Mountain geflohen war. Dort hatte er Carolyn dann in flagranti ertappt und sie getötet. Auf dem Rückweg hatte Anna eingehend über diese Theorie nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass die Geschichte einige Haken hatte. Nun wiederholte sie sie, denn es war Harrys Aufgabe, nicht ihre, zu entscheiden, was wichtig war und was nicht.
Er überlegte genauso gründlich wie sie und verwarf die Möglichkeit schließlich aus denselben Gründen. Rory hatte weder ein Messer bei sich noch Blutspuren an Körper oder Kleidung gehabt. War es wahrscheinlich, dass er in Stoffschuhen nach Fifty Mountain gerannt und im falschen Zelt gelandet war und seine Stiefmutter mit McCaskil erwischt hatte? Und hatte Carolyn sich dann angezogen und war viereinhalb Kilometer weit marschiert, damit er sie am Tatort umbringen konnte? Oder hatte er Carolyn zufällig mitten in der Nacht unterwegs in den Armen ihres Liebhabers angetroffen und sie niedergeschlagen? Womit? Rory war zwar kräftig, aber zart gebaut. Die Theorie ging einfach nicht auf.
»William McCaskil ist also noch im Rennen«, merkte Anna mit wenig Begeisterung an.
Ruick gab nur ein Brummen von sich. McCaskil mochte mit der Ermordeten geschlafen und ihr sogar seine Jacke geliehen haben, doch das war beides nicht verboten. Verdächtig hatte er sich erst durch seine Flucht gemacht, aber die konnte die verschiedensten Gründe haben. Immerhin war McCaskil vorbestraft, weshalb es plausibel war, dass er nicht in Mordermittlungen verwickelt werden wollte. Insbesondere dann, wenn er etwas Ungesetzliches im Schilde führte, über das er lieber Stillschweigen bewahrte. Wenn es nicht gelang, eine wasserdichte Verbindung zwischen ihm und dem Opfer zu finden oder zu beweisen, dass er in der Vergangenheit ähnliche Verbrechen verübt hatte, konnten sie nur mit ihm reden und mussten ihn dann laufen lassen.
»McCaskil kriegen wir«, sagte Ruick. »Sein Auto steht noch hier, und außerdem haben wir ihn zur Fahndung ausgeschrieben. Wir werden ihn finden. Wenn Sie ihm über den Weg laufen, legen Sie sich bloß nicht mit ihm an. Auf sein Konto gehen einige Anzeigen wegen Körperverletzung. Außerdem ist er zweimal wegen eines Schwerverbrechens verurteilt worden. Falls er wirklich auf Sie geschossen hat, wäre das seine dritte Straftat. Das hieße viele, viele Jahre Knast. Wahrscheinlich ist er längst über alle Berge, und ich weine ihm keine Träne nach. Bis meine Leute von den Waldbränden zurück sind, habe ich nicht genug Personal, um diese Aktion fortzusetzen. Ich tue den Übergriff auf Sie nicht leichtfertig ab, Anna. Wirklich nicht. Morgen schicke ich ein paar meiner Männer hin. Allerdings wissen wir beide, was sie dort vorfinden werden.«
»Dasselbe, wie ich«, stimmte, Anna zu. »Minus einer halben Erdnuss.«
»Wir geben nicht auf«, verkündete Harry, hauptsächlich, um das Gesicht zu wahren. »Die Ermittlungen gehen weiter. Aber wir müssen annehmen, dass der Mörder von Mrs Van Slyke den Park inzwischen verlassen hat. Solange wir nicht auf weitere Hinweise stoßen, halte ich es für sinnlos, meine Leute in der Hochsaison weiter mit diesem Fall zu beschäftigen. Sie werden anderweitig gebraucht.«
Das gefiel Anna gar nicht, denn eine innere Stimme sagte ihr, dass zwischen diesen scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen irgendwie geartete Verbindungen bestehen mussten. Sie brauchte nur den richtigen Blickwinkel zu finden, um zu erkennen, was ein Betrüger aus Florida, eine untreue Scheidungsanwältin aus Seattle und ein geheimnisvoller junger Mann mit einem Gürtel aus Kettengliedern und einem wunderschönen Lächeln mit zerlöcherten Wasserflaschen, Großkopffaltern, Gletscherlilien und einem Mord gemeinsam hatten.
»Was soll ich tun?«, fragte sie, weil ihr dieser Blickwinkel auch weiterhin verborgen blieb.
Ruick wandte sich vom Parkplatz ab und sah sie an. Offenbar war ihm bei dem Gedanken, die Ermittlungen
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