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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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unruhigen Schlaf in der Felsspalte auf dem Cathedral Peak geweckt. Beide Male hatte sie es auf zerbrechende Zweige unter dem Schritt eines tatsächlichen oder eingebildeten Angreifers geschoben. Doch als sie nun wieder auf die Armlehne schlug, stellte sie fest, dass es völlig anders klang.
    Na und? Dann hatte eben jemand Holzstücke aneinandergeschlagen, während ein Bär das Lager verwüstet hatte oder – noch unwahrscheinlicher – während ein Bär so freundlich gewesen war, Anna ihre Wasserflasche zurückzubringen. Hatte Rory in seinen Träumen ebenfalls das Knacken von Holz gehört, als jemand in der Nacht, in der er in den Wald gelaufen war, die Wasserflasche seiner Mutter neben ihn hingestellt hatte? Warum? Ein Signal? Eine nervöse Angewohnheit? Ein Voodoo-Ritual?
    »Verdammt«, wiederholte Anna. Alle Wege führten zum Kraftausdruck. Sie legte das Lineal wieder an seinen Platz.
    Den restlichen Berichten ließ sich nur wenig Neues abringen. Der Laborbericht über den blauen Sack fehlte noch, doch Anna rechnete nicht mit überraschenden Erkenntnissen. Nachdem sie gründlich und ausgiebig Bekanntschaft mit Berggeröll und von Motten besiedelten Steinen gemacht hatte, zweifelte sie nicht daran, dass die Spuren an dem Sack genau Joans Feststellungen entsprachen: Gesteinsmehl und Staub von Mottenflügeln. Die Blutschmierer im Inneren mussten nicht zwangsläufig von Carolyn Van Slyke stammen, aber Anna ging fest davon aus. Der Laborbericht über die Erdnuss und das Stück Hundekuchen würden vermutlich ebenso wenig Licht in die Sache bringen. In den meisten Fällen waren die Dinge genau das, was sie zu sein schienen.
    Weil sie schon einmal hier war und nichts Besseres zu tun hatte, füllte sie ein Berichtsformular zum Thema Zwischenfall mit einem Bären aus, in dem sie ihre Begegnung mit der Bärin und den beiden Jungtieren beschrieb, die zum Fressen in den Gletscherring unterhalb des Cathedral Peak gekommen waren. Anschließend blätterte sie, ohne zu wissen, was sie eigentlich suchte, die seit ihrer Ankunft im Glacier-Nationalpark eingereichten Berichtsformulare durch.
    »Bestätigung«, sagte sie. Da sie keine sicheren Beweise dafür hatte, hatte sie sich die Mühe gespart, es Harry Ruick zu erklären oder, noch schlimmer, einen Bericht darüber zu schreiben. Dennoch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass ein Bär eine Rolle bei den Zwischenfällen im Glacier spielte. Der offensichtlichste Grund war die Verwüstung des Lagers. Ein weniger eindeutiges Zeichen war, dass das Fleisch außerhalb der Reichweite von Bären versteckt worden war. Hinzu kamen ein Mann, der das Futter von Bären ausgrub und in einer Bärenhöhle wohnte, und eine Wasserflasche mit den Bissspuren eines Bären.
    Auch die Berichte ergaben nichts Erhellendes. Die beiden, die anscheinend frei erfunden waren – der in fliederfarbener Tinte verfasste, der schilderte, wie ein Bär mit einem Igel jonglierte, und der, der den tanzenden Bären behandelte –, legte Anna beiseite. Die Übrigen, auch der über den Angriff auf ihr Lager, zeichneten ein lebhaftes, allerdings nicht übertriebenes, Bild von Bären, die sich eben wie Bären verhielten.
    Als Anna die Fantasieberichte wieder in den Stapel einordnete, bekam sie plötzlich Mitleid mit dem Benutzer der fliederfarbenen Tinte. Eine Sache musste nicht zwingenderweise unwahr sein, nur weil sie unglaubhaft klang.
    Anna hatte alles Menschenmögliche getan. Nach einem fest an den Telefonhörer gepresst verbrachten Tag fühlte sich ihr Ohr heiß an. In ihrem Magen drängten sich ächzende Gummibärchen, und vor Joans Bürofenster war es dunkel geworden.
    Anna ging »nach Hause«. So viele Jahre lang war zu Hause der Ort gewesen, wo sie ihre Katze fütterte. Schnellen Schrittes marschierte sie durch die rasch kühler werdende Dämmerung, wo dank der Moskitos, die planten, mit Annas Blut ihre Vermehrung anzukurbeln, reger Betrieb herrschte. Anna stellte fest, dass sie schreckliches Heimweh nach ihren Tieren hatte. Piedmonts behagliches Schnurren, ja sogar Tacos Herumhüpfen auf drei Beinen, das Hochspringen, Ablecken und die Begrüßung, mit der sie inzwischen fest rechnete, wenn sie die Haustür öffnete. Sie vermisste auch Sheriff Davidson, Paul, den neuen Mann in ihrem Leben, allerdings nicht mit derselben kindlichen Sehnsucht. Im Gegensatz zu Piedmont hatte Davidson sie noch nie weinen gesehen, und er hatte ihr auch nicht wie Taco das Leben gerettet.
    Am nächsten Morgen schlief Anna aus,

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