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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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in Waterton, Kanada.
    So sehr Anna sich auch auf die Zivilisation gefreut hatte, hatte diese sich als Enttäuschung entpuppt. Das erträumte Gefühl von Ordnung, Sicherheit und Berechenbarkeit war ausgeblieben. Anstelle von Sicherheit hatte sie Langeweile vorgefunden, und Ordnung und Berechenbarkeit hatten sich darauf beschränkt, den Wahnsinn auf Berichtsformulare zu bannen, um diese dann abzulegen und den Schein zu wahren. Der Mensch sehnte sich nun einmal verzweifelt nach der Illusion, er hätte alles im Griff. Nur so fand er den Mut, morgens aufzustehen.
    Der plötzliche und sinnlose Tod ihres Mannes hatte Anna diese Illusion schon vor Jahren jäh geraubt. Seitdem hatte sie sich redliche Mühe gegeben, um nicht der Versuchung zu erliegen, die Einzelteile zusammensetzen zu wollen, anstatt einigermaßen würdevoll zu begreifen, zu erfassen und hinzunehmen, dass das Leben sinnlos war. Es gab keinen übergeordneten Plan. Die Dinge strebten nicht automatisch zum Besten hin. Man konnte anklopfen, bis man blutige Knöchel hatte, ohne dass sich die Tür öffnete. Wer Anna nicht gut kannte, schloss daraus, dass sie zynisch oder sogar verbittert war. Anna empfand ihre Haltung als Chance, die Wirklichkeit frei von Erwartungen zu sehen und ihr keine Bedeutung mehr abringen zu müssen.
    Leider half ihr diese sorgsam gepflegte Einstellung nicht immer weiter. Die Wirklichkeit schonungslos zu betrachten war zwar eine schöne Sache, doch es gehörte nun einmal zu ihrem Beruf, sie auch auszulegen. Und diesmal war sie daran gescheitert. Dass sie damit nicht allein dastand, war ein schwacher Trost.
    Als Anna sich, die Sinne abgestumpft von Gedanken wie diesen, auf den Weg in die Wildnis machte, stellte sie fest, dass die Natur sie ebenso enttäuschte wie die Zivilisation. Die Erkenntnis erschreckte sie so sehr, dass sie stehen blieb und reglos in der heißen Sonne verharrte.
    Die Natur hatte für sie ihren Zauber verloren, weil sie sich scheinbar unnatürlich verhielt, während die Welt der Menschen ihr allein schon wegen ihrer Vorhersehbarkeit nichts mehr gab.
    So etwas führt in den Wahnsinn, sagte sie sich und nahm sich die Zeit, ihren Verstand zurechtzurücken. Zwanzig Minuten lang stand sie schwitzend auf der heißen, gewundenen Straße und nahm nichts wahr als die Brise, die Farbe der Himbeeren und das federleichte Scharren von Fichtennadeln am Himmel. Als sie endlich wieder in ihre eigene Haut zurückgekehrt war, fühlte sie sich von einer schweren Last befreit. Da sie die Erwartungen nun aufgegeben hatte, würde alles, was geschah, so sein wie von der Natur vorgesehen, auch wenn es ihr merkwürdig erscheinen mochte. Alles ergab Sinn. Dass sie ihn nicht verstand, war ihr eigener Fehler, kein Irrtum der Welt an sich.
    Im Fifty Mountain Camp wurde sie von Joan und Rory empfangen. Sie sahen aus und rochen, als hätten sie die letzten drei Tage im Busch verbracht. Anna war froh, sie zu sehen. Joan hatte einen Sonnenbrand auf Nase und Stirn und einen Kratzer an der Wange, den sie sich im Gebüsch zugezogen hatte. Rory war sonnengebräunt. Anna fand, dass er seit dem Tod seiner Stiefmutter größer, stärker und gefasster wirkte. Da Anna kein frommer Mensch war, hing sie der Überzeugung an, dass manche Leute auf der Todesliste am besten aufgehoben waren. Und sie zweifelte nicht daran, dass die alles vergiftende Carolyn Van Slyke zu diesem Personenkreis gehört hatte. Wenn Anna Lester das nächste Mal sah, würde sie sehr enttäuscht sein, falls er, nun vom Einfluss seiner gewalttätigen Frau befreit, nicht ebenso Anzeichen von Erleichterung zeigte. Enttäuscht, allerdings nicht überrascht. Anna hatte nämlich den Verdacht, dass Lester die Gewalt insgeheim brauchte. Möglicherweise suchte er sich ja wieder eine Frau, die ihn zwar nicht unbedingt schlug, ihm aber mit verbalen und seelischen Grausamkeiten zusetzte.
    »Willst du aufs College, Rory?«, erkundigte sie sich plötzlich während der Begrüßung.
    »Was? Ja, nächstes Jahr«, erwiderte er, nachdem die Frage bei ihm angekommen war.
    »University of Washington in Seattle?«, hakte sie nach.
    »Nein, Spokane. Meine Noten sind gut genug, um einen Platz zu kriegen.«
    Anna war erleichtert. Also würde er nicht zu Hause wohnen. Lester Van Slyke würde niemals von einem Gericht verurteilt werden. Er war ein Opfer und verdiente, wie Anna vermutete, deshalb Mitleid und Verständnis. Auf den ersten Blick war das auch gut so. Allerdings schadeten Opfer, also Menschen, die sich

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