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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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freiwillig dafür entschieden, diese Rolle zu übernehmen oder beizubehalten, in manchen Fällen ihrem Nachwuchs ebenso wie die Täter. Diese Theorie mochte nicht politisch korrekt sein, doch da Anna lange darüber nachgegrübelt hatte, wusste sie, dass sie zutraf.
    »Haben wir Rorys Zukunft jetzt zu deiner Zufriedenheit erörtert und können endlich aufbrechen?«, sagte Joan und zeigte beim Lächeln ihre reizend schiefen Zähne. Ihre Hamsterbacken schoben die Brille nach oben.
    Anna lachte. »Geh voran.«
    »Schön, dass du wieder da bist«, meinte Joan, während Rory ihr mit ihrem Rucksack half. »Wir brauchten dringend ein freudiges Ereignis.«
    Anna galt inzwischen also als freudiges Ereignis. Die Dinge entwickelten sich immer besser.
    Am Vortag hatten Joan und Rory eine Haarfalle auf der anderen Seite des verbrannten Gebiets abgebaut, wo sich zwei Lawinenrinnen trafen. Der Stacheldraht war zusammengerollt, die Proben waren ordentlich verpackt. Rory griff nach dem Hartschalenkoffer mit dem Blutköder und dem Liebesduft. Joan hatte die Proben von den letzten beiden Fallen im Gepäck. Froh, dazuzugehören, und erleichtert, nach den langwierigen und fruchtlosen Bemühungen endlich etwas Sinnvolles tun zu können, befestigte Anna die schweren Drahtrollen am Rahmen ihres Rucksacks und quälte sich in die Gurte.
    Da es noch lange genug hell bleiben würde, würden sie den Weg zum Lagerplatz, einen Katzensprung entfernt vom Standort der neuen Falle, mühelos schaffen. Angeführt von Joan, marschierten sie nach Norden über eine große, üppig grüne Wiese, durchsetzt von gewaltigen viereckigen Felsbrocken. Wildblumen, die wegen des langen Winters erst spät blühten, brachten das Gras zum Leuchten. Hin und wieder stießen sie auf einen Teich, der, winzig, mitternachtsblau und scheinbar so tief wie ein Ozean, in einer von einem zurückweichenden Gletscher hinterlassenen Senke funkelte.
    Rory, der sich in der frischen Bergluft oder unter dem Einfluss von Joan Rands ganz persönlicher Art von geistiger Gesundheit offenbar erholt hatte, folgte Joan und redete ununterbrochen wie ein ganz normaler Jugendlicher.
    Anna ließ die Geräusche über sich hinwegbranden und genoss die atemberaubende Schönheit der Landschaft. Auch auf sie hatte die Umgebung eine heilende Wirkung, sodass in dem Abgrund, ausgehöhlt von Mord und Verheerung, wieder die Normalität Einzug hielt. Es dauerte nicht lang, bis sie selbst einen Beitrag zur fröhlichen Lärmbelästigung leistete und ein Lied pfiff, das ihr Vater ihr beigebracht hatte und das weder ein Ende noch einen Text hatte.
    Hinter der Wiese fiel der Weg steil ab und führte in das Tal, das sich nach einer Weile verbreitern und am prachtvollen Waterton Lake enden würde. Die ersten anderthalb Kilometer bestanden aus in den Fels gehauenen Serpentinen. Je tiefer sie kamen, desto dichter wurde die Vegetation. Hier waren Bäume höher, und in den alten Lawinenrinnen oberhalb des Pfades und darunter wucherten Unmengen reifer Heidelbeeren.
    »Um diese Jahreszeit wimmelt es hier von Bären«, rief Joan. »Sie sind auf die Heidelbeeren aus. Also macht ordentlich Krach. Wir wollen niemanden beim Essen stören.« Joan ging mit gutem Beispiel voran, indem sie in einem heiseren Alt aus voller Kehle die erste Zeile von »The Battle Hymn of the Republic« anstimmte.
    Der goldene Schein der Spätnachmittagssonne beleuchtete mit schulterhohen vielfarbigen Wildblumen bewachsene Hügel. Die Blumen schossen aus allen Felsspalten. Als die drei singend weiterwanderten, wurde Anna klar, dass das Gleichgewicht wieder hergestellt war. Mehr als das, sie hatte sogar Spaß an der Gesellschaft anderer Menschen. Wenn das keine Ausgeglichenheit war, wurde geistige Gesundheit offenbar stark überschätzt.
    Sie überquerten einen breiten, flachen Hügelausläufer, wo man mit Spitzhacke und Schaufel einen schmalen Pfad gegraben hatte. Joan zeigte ihnen die Stelle, an der sie am Morgen die nächste Falle aufbauen würden. Die struppigen Erlen ringsum standen dicht an dicht. Wenn Joan, Anna und Rory den Pfad verließen, würden sie eine Lawinenrinne hinaufklettern müssen, die sich an einem, wie Joan versprach, ebeneren Punkt mit einer anderen, kleineren Rinne traf.
    Um einen geeigneten Lagerplatz zu finden, marschierten sie noch einige Kilometer in den Wald hinein. Hier, so hoch oben im feuchten Norden, fühlte sich Anna an einen Urwald erinnert. Die Bäume waren gewaltig. Riesige mit Nadeln bewachsene Äste versperrten

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