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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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hinhauen.«
    »Weißt du noch genau, woraus er bestand?«
    Anna kniff die Augen zusammen und versuchte, sich das Blatt Papier vorzustellen. »Die Prozentzahlen habe ich vergessen. Also, die Bestandteile, die ich bereits aufgezählt habe, plus Kalzium. Die Trägersubstanz war Trockenmasse, wenn ich mich recht entsinne. Klang ziemlich ominös.«
    »Allesfresserfutter«, verkündete Joan.
    Anna öffnete die Augen. »Allesfresserfutter?«
    »Damit füttern wir Bären in Gefangenschaft. Ein Durchschnittsbär frisst etwa drei Kilo Allesfresserfutter und noch einmal die gleiche Menge an Obst und Gemüse pro Tag.«
    »Also füttert jemand die Bären?«, wunderte sich Rory. »Ich meine, mit Bärenfutter?«
    Anna lachte. Das Füttern von Bären, ob absichtlich oder anderweitig, war in Nationalparks ein Dauerproblem. Aber Rory hatte recht. Kein Mensch verwendete dazu spezielles Bärenfutter. »Warum sollte man das tun?«, erkundigte sie sich. »Um die Bären anzulocken?«
    »Bären fressen das Zeug zwar«, merkte Joan an, »denn sie sind nicht wählerisch. Doch als Köder eignet es sich nicht besonders. Wir haben Jahre damit verbracht, Köder zu entwickeln. Allesfresserfutter schafft es nicht einmal in die Liste der Top-Einhundert. Der Geruch ist kaum vorhanden und aus der Entfernung nicht wahrzunehmen und wirkt auch nicht sehr verführerisch. Man kann Bären damit ernähren, allerdings bezweifle ich, dass es sie anlocken würde.«
    »Man könnte sie daran gewöhnen«, wandte Rory unerwartet ein. »Wenn man das Futter um dieselbe Zeit am selben Ort auslegt, würden sie immer wiederkommen.«
    Anna und Joan dachten eine Weile darüber nach. »Das würde klappen«, meinte Anna schließlich nachdenklich. »Und warum?«
    Sie zählten die offensichtlichen Gründe auf: um die Bären zu erschießen, sie zu beobachten, sie einzufangen oder sie zu fotografieren. Alles war möglich, jedoch nur schwer in die Tat umzusetzen. Der Glacier National Park war eine Einrichtung, in der die Bären geschützt und überwacht wurden. Ranger, Wissenschaftler und eine zunehmend informierte Bevölkerung behielten ihre Anzahl, ihre Lebensgewohnheiten und ihr Verhalten im Auge. Jemand, der das dringende Bedürfnis hatte, auf eine der genannten Weisen auf die Bären einzuwirken, konnte das einen Katzensprung nördlich von hier in British Columbia, wo es Tausende und Abertausende von Hektar privater Ländereien gab, entweder ganz legal oder zumindest mit höherer Wahrscheinlichkeit unbemerkt tun.
    »Boone und Crockett«, sagte Anna in Anspielung auf den Mann, der besitzergreifend einen Elch begafft hatte. »Ein Bär von Trophäengröße, der einem Wilderer zur Versuchung werden könnte?«
    »Nicht in dieser Gegend«, widersprach Joan. »Wegen der Nahrungsverhältnisse, der genetischen Veranlagung und so weiter und so fort sind unsere Bären eher klein geraten. Ein großes altes Männchen könnte um die zweihundertfünfzig Kilo wiegen. Vielleicht. Zweihundert bis zweihundertzwanzig würde es eher treffen. Deshalb machen Trophäenjäger eher das nördliche Kanada oder Alaska unsicher.«
    »Ein Geisteskranker?«, schlug Anna vor. »Der durch die Wälder streift wie ein verrückter Johnny Appleseed aus dem Gedicht von Vachel Lindsay, nur dass er keine Obstkerne verstreut, sondern Bären füttert?«
    »Für noch einen Geisteskranken mehr ist immer Platz«, stimmte Joan zu.
    Diesmal hatte Anna ihr eigenes Zelt und stellte fest, dass sie Joan vermisste. Durch die Stoffwände hörte sie ihr ganz und gar nicht damenhaftes Schnarchen und empfand das Geräusch als beruhigend. Obwohl sie selbst nicht schlafen konnte, war es schön, zu wissen, dass wenigstens andere Ruhe fanden.
    Die Nervosität und Anspannung, die ihr ihre letzte Nacht in der Wildnis verdorben hatten, hatten sich verflüchtigt. Sie lag nicht wach, weil sie auf das Klappern von Holz oder den Überfall eines Untiers mit spitzen Zähnen wartete. Der Mann, der einen Felsen in ihre Richtung gewälzt und einen Schuss auf sie abgegeben hatte, bereitete ihr auch keine großen Sorgen. Schließlich hatte nicht er sie verfolgt, sondern umgekehrt. Falls er die Sache, weswegen er hier war, nicht bereits erledigt und den Park verlassen hatte, machte er sicher einen möglichst großen Bogen um alles, was Grün und Grau trug.
    Joan und Rory ihre Geschichte zu erzählen hatte die mühsam beiseitegeschobenen Bruchstücke und Tatsachen wieder zutage gefördert. Nun wurden sie herumgeweht, bis es in Annas Schädel aussah

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