Blutköder
den Blick zum Himmel. Am Boden wuchsen hohe Farne, die die Menschen um einiges überragten. Abgefallene Nadeln und Blätter dämpften ihre Schritte. Ein Krachen und etwas Braunes, das durch die grünlichen Schatten huschte, verriet ihnen, dass sie in das Revier einer Elchkuh geraten waren. Vermutlich gab es in der Nähe Wasser.
Lachend zeigte Anna mit dem Finger, als ob den anderen die lautstarke Flucht des Tieres entgangen sein könnte. Anna mochte Elche. Sie hatte sich während ihrer Tätigkeit auf der Isle Royale in Michigan in sie verliebt. Das Bullwinkle-Syndrom: Obwohl Elche riesige und manchmal auch gefährliche wilde Tiere waren, lösten ihre Knollennasen und ihr schlackernder, schwerfälliger Gang in Anna den Wunsch aus, mit ihnen zu spielen. Zum Glück sorgten die Vernunft und die Achtung vor der Würde der Elche dafür, dass sie sich zurückhielt.
»Elch«, merkte sie völlig sinnlos an.
»In diesem Teil des Parks gibt es viele davon«, erwiderte Joan.
»Cool«, meinte Rory.
Wirklich cool.
Der Lagerplatz im Wald war idyllisch. Wenn man sich ausgiebig mit DEET einrieb, konnte man sogar die Moskitos einigermaßen in Schach halten. Es herrschte eine solche Stille, dass man sie fast mit Händen greifen konnte, eine Macht, die im Gehirn sanfte Wellen schlug. In der Zivilisation hätte ein Schweigen wie dieses in den Ohren gedröhnt. Hier weitete es die Seele, und Anna atmete es ein. Das leise Plaudern der anderen störte die Ruhe nicht, sondern rieselte auf ihre Oberfläche nieder wie Blütenblätter auf einen Teich. Anna hörte zu, wie Joan mit ihrem jungen Protegé schäkerte. Die Stimmen der beiden bildeten einen angenehmen Kontrast zum Frieden des Waldes.
»Zeit zum Geschichtenerzählen«, verkündete Joan, nachdem das Abendessen verspeist und das Geschirr – Plastikbeutel, in die man heißes Wasser goss, um verschiedene kohlenhydrathaltige Substanzen zu lösen – weggeräumt und für die Nacht in einem Baum versteckt war. »Was ist in den drei Tagen passiert, in denen wir uns für unseren Lebensunterhalt abgeschuftet haben?«
In den Stunden, seit Anna ihr Gehirn zurechtgerückt und Joan Rands erfrischende Art und die Wildnis genossen hatte, waren ihr die Mordermittlungen so weit entfernt erschienen wie ein historisches Ereignis. Doch sie hatte nichts dagegen, die Erinnerungen wieder hervorzukramen. Sie waren nichts als eine Denksportaufgabe mit Unterhaltungswert in der Runde rings um die Kerze, Joans persönliches Lagerfeuer, die sie stets anzündete.
Ein Blick auf Rory verriet Anna, dass ihre Schilderung ihn nicht erschrecken würde, obwohl es darin um seine Stiefmutter ging. Sie wusste, dass er anfangs seinen Vater im Verdacht gehabt hatte und dass ihm das mehr zu schaffen gemacht hatte als Carolyns Ableben. Wie sie vermutete, hatte er beim Ausschütten von Fischgedärm und dem Nageln von Stacheldraht an Bäume so manches therapeutische Gespräch mit Joan geführt.
Und so berichtete Anna, an Schlafsack und Rucksack gelehnt, von ihren Telefonaten, Fetterman, der ungeklärten Verbindung zwischen dem am nordöstlichen Zipfel des Parks zurückgelassenen Pick-up mit Anhänger und McCaskils falschen Namen. Nur ihr Gespräch mit Carolyns Sekretärin Francine erwähnte sie nicht. Auch wenn Rory seiner Stiefmutter nicht so nah gestanden hatte wie zunächst vermutet, war es nicht nötig, ihr Andenken zu beschmutzen.
Da Konkurrenz in Form von Fernsehen, Radio, Internet oder einer Tanzeinlage fehlte, hing das Publikum gebannt an Annas Lippen, und sie ertappte sich dabei, dass sie ausführlicher wurde als beabsichtigt. Sie beschrieb, wie sie sich eine Nacht in einer Felsspalte auf dem Cathedral Peak versteckt, von einem umhertapsenden Bären geträumt und beim Aufwachen ihre Wasserflasche, vielleicht durchbohrt von Zähnen, vorgefunden hatte. Dann wie sie die saubergefegte Höhle durchsucht, aber nichts als die Erdnuss, die Münze und das Stück Hundekuchen gefunden hatte.
»Wir waren wirklich gründlich«, fügte Anna hinzu. »Harry hat sogar den Hundekuchen analysieren lassen.«
»Mehl und Wasser?«, mutmaßte Rory.
»Eiweiß, Fett, Ballaststoffe, Asche und noch ein paar andere Dinge«, erwiderte Anna. »Deshalb haben wir ja auf Hundekuchen getippt.«
Joan richtete sich auf. Ihre interessierte Miene wurde von Aufregung abgelöst. »Wie groß war er?«, fragte sie. »Etwa so wie ein Brikett?«
»Es war nur ein abgebrochenes Stück«, antwortete Anna. »Doch das müsste ungefähr
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