Blutköder
McCaskil. »Warum schilderst du uns nicht, wie Balthazar die Frau getötet hat?«, wandte sie sich an Geoffrey Micou, als alle wieder saßen.
Rory schnappte hörbar nach Luft, während McCaskil auflachte. »Jetzt werden sie den Killerbären abknallen«, höhnte er. »Bei mir hätte er es besser gehabt. Vielleicht hätte er es ja geschafft, abzuhauen und zu überleben.« Geoffrey schlug beide Hände vors Gesicht, eine Geste, die gleichzeitig theatralisch und spontan war.
»Anna!«, wies Joan sie für ihr mangelndes Einfühlungsvermögen zurecht. »Hältst du das aus?«, fragte sie dann Rory.
Anna hatte ganz vergessen, dass die Tote Rorys Stiefmutter gewesen war. Das schlechte Gewissen meldete sich, doch die Neugier war stärker, weshalb sie keinen Rückzieher machte.
»Mich stört es nicht«, erwiderte Rory, worauf Joan ihn eindringlich musterte, um festzustellen, ob sie es mit Verwirrung oder schuljungenhafter Großspurigkeit zu tun hatten. Offenbar war sie mit dem Ergebnis zufrieden.
»Die Tote war Rorys Stiefmutter«, erklärte sie Geoffrey.
Die Hände auf dem Gesicht des Jungen krochen hinauf ins Haar und ballten sich zu Fäusten, sodass braune Strähnen zwischen den Fingern hervorlugten. Seine Gefühle lagen so offen da, dass jeder sie sehen konnte, der Augen im Kopf hatte. Vielleicht war der Grund ja, dass er mit einem Bären als Bruder aufgewachsen war, jedenfalls fehlte ihm die wichtigste menschliche Abwehrwaffe: die Lüge.
»Es tut mir leid. Es tut mir ja so leid.« Die Worte wurden mit tränenerstickter Stimme hervorgestoßen.
»Schon gut«, sagte der ältere Junge. »Ich habe ja noch meinen Dad.«
Kurz wünschte Anna, Lester Van Slyke wäre hier gewesen, um Rorys Worte zu hören. Nicht, dass Lester sie verdient gehabt hätte. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es nicht lange dauern, bis er mit der nächsten selbstzerstörerischen Beziehung dafür sorgte, dass sein Sohn wieder den Respekt vor ihm verlor.
»Sprich weiter«, forderte Anna Geoffrey auf.
»Erzähl uns deine Geschichte«, fügte Joan, freundlicher und mit besserem Ergebnis, hinzu.
»Balthazar und ich hatten gerade euer Lager zerstört, um euch zu vergraulen«, sagte Geoffrey zu Rory. »Ich wusste, dass du weggegangen warst. Als Balthazar dein Zelt zerquetscht hat, ist es einfach weggerollt. Also war klar, dass du nicht darin liegst. Deshalb habe ich ihm erlaubt, damit zu spielen. Wir hatten nicht vor, jemanden zu verletzen. Jedenfalls waren wir anschließend beide aufgedreht und durcheinander und sind zum Pfad zurückgelaufen. Ich hielt es für besser, wenn wir uns aus dem Staub machen und erst ein Stück weiter verstecken würden. Bei Helligkeit durften wir uns nirgendwo blicken lassen, wo wir andere Leute hätten treffen können. Der Plan war, uns zu verkriechen, bis ihr verschwunden seid, und uns dann die Lilien zu holen.
Es wurde gerade hell, als die Frau auf dem Pfad aufgetaucht ist. Ich bin sofort hinter einen Busch gehechtet und habe nach Balthazar gepfiffen. Aber der hat sich aufgerichtet, geschnuppert und geknurrt, als hätte er eine Heidenangst vor ihr. Eigentlich ist er an Menschen gewöhnt. Er verhält sich nur so, wenn …«
»Wenn Mr McCaskil in der Nähe ist?«, fragte Anna.
»Richtig. Er fürchtet sich vor ihm.«
»Die Dame hatte Bill McCaskils Jacke an«, erklärte Anna. »Sie hat sie mitgenommen, als sie am Morgen sein Zelt verließ.«
»Verblödete Schlampe«, zischte McCaskil.
»Vorsicht«, warnte Anna.
»Das war also der Grund.« Geoffrey wandte sich an Balthazar. »Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht«, sagte er zu dem Bären. Er drehte sich wieder zu seinen menschlichen Zuhörern um. »Die ganze Sache war ziemlich stressig für Balthazar. Ich bin vorher noch nie aus Florida rausgekommen, und Balthazar war überhaupt niemals irgendwo. Die anderen Bären ängstigen ihn. Die Hirsche auch. Dort, wo die Großkopffalter sind, wäre er beinahe von einer Klippe gefallen. Er kennt keine Welt, in der der Boden Klippen hat. Ich habe schon befürchtet, er könnte sich überfordert fühlen. Er hatte schon seit einer Weile sein normales Futter nicht mehr gekriegt und ein paar Haare verloren. Also dachte ich, er könnte einen Nervenzusammenbruch erlitten haben, als er die Frau sah. Alles in Ordnung, Kumpel«, meinte er zu seinem Freund. »Sie hatte nur Mr McCaskils Jacke an.«
Nachdem Balthazars Ehre wieder hergestellt war, richtete Geoffrey das Wort erneut an sein menschliches Publikum. »Sie hat angefangen,
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