Blutköder
Hubschrauber schicken würde, machen wir uns auf den Weg zum Lager und marschieren morgen los. Harry sagte außerdem, und ich zitiere: ›Richten Sie Anna aus, sie kann sich unter den Campern in Fifty Mountain umhören, wenn sie möchte.‹«
Das war ein stillschweigender Auftrag an sie, Ermittlungen durchzuführen, allerdings ohne amtliche Funktion und ohne Rückendeckung von der Nationalen Parkaufsicht. Falls Anna etwas Hilfreiches in Erfahrung brachte, schön und gut. Wenn sie einen Fehler machte, war sie nahezu ebenso bedeutungslos wie eine Zivilistin. Es durfte ihr nur kein gewaltiger Patzer unterlaufen, der womöglich mit einer Zivilklage endete. Dann würden sie beide vor dem Kadi landen. Anna gestattete sich, es als Kompliment zu sehen, dass der Polizeichef offenbar Vertrauen in ihre Fähigkeiten hatte.
»Weißt du, ob die Camper vernommen worden sind?«, erkundigte sich Anna. Sie saß nun schon seit einer Weile – der Helikopter mit Lester Van Slyke an Bord war noch nicht gestartet – auf ihrem Felsen.
»Ich glaube schon. Harry hat ein kurzes Gespräch mit jedem geführt und allen gesagt, sie müssten vor der Abreise in der Zentrale vorbeischauen, nur für den Fall, dass es noch Fragen gibt oder Formulare ausgefüllt werden müssen.«
»Es müssen immer Formulare ausgefüllt werden«, erwiderte Anna. »Daran führt kein Weg vorbei.«
Sie folgte Joan zurück zum Zeltplatz. Da sie noch etwa anderthalb Stunden totschlagen mussten, bis Buck mit Rorys Stiefeln zurückkehrte, beschloss Anna, Ruicks Vorschlag, »sich umzuhören«, anzunehmen.
Allerdings hatte unter den irrlichternden Bewohnern von Fifty Mountain inzwischen bereits ein solcher Wechsel stattgefunden, dass die Befragung mehr oder weniger Zeitverschwendung war. Rory war eine Nacht, einen Tag und dann noch eine Nacht vermisst gewesen. Während dieser Zeit war die Leiche gefunden worden. Erst am Tag darauf hatten sie von Carolyn Van Slykes Verschwinden erfahren. So lange hielten sich Camper nur selten an einem Ort auf. Wenn man davon ausging, dass die Frau mit dem verstümmelten Gesicht in derselben Nacht ihr Leben verloren hatte, in der Rory vor dem Bären geflohen war, worauf der Zustand der Leiche schließen ließ, waren zwei Vormittage gekommen und verstrichen – Vormittage, an denen die Frühaufsteher unter den Campern ihre Zelte zusammengepackt hatten und aufgebrochen waren. An ihrer Stelle waren andere Wanderer eingetroffen, um die frei gewordenen Plätze mit Beschlag zu belegen. Also konnte man Zeugen, Alibis und die sonst bei Ermittlungen in einem Mordfall üblichen Punkte vergessen.
Anna schlenderte von Zeltplatz zu Zeltplatz. Nur drei Gruppen waren in der Nacht, in der Mrs Van Slyke sich in Luft aufgelöst hatte, vor Ort gewesen. Allmählich verlor das Kompliment, als das Anna Ruicks Angebot gedeutet hatte, an Glanz. Unter den gegebenen Umständen war es eher Beschäftigungstherapie, sich umzuhören. Dennoch ließ sie nicht locker. Schließlich hatte sie nichts Besseres zu tun und war außerdem inzwischen an die Sackgassen gewohnt, auf die man bei Ermittlungen immer wieder stieß. Man folgte ihnen einfach bis zu ihrem natürlichen Ende, hakte sie auf der Liste ab und wandte sich der nächsten zu. Ohne wirklich sachdienliche Hinweise lief Polizeiarbeit auf eintönigen Alltagstrott hinaus. Dass sie die Möglichkeit hatte, diesen im Freien an einem der idyllischsten Fleckchen Erde der Welt zu erleben, war ein eindeutiger Vorteil.
Anna sprach einzeln mit den Campern, die in der Nacht, in der Mrs Van Slyke vermutlich ermordet worden war, hier gezeltet hatten. Drei kanadische College-Studentinnen hatten nichts zu berichten. Menschen, die weder jung noch schön waren, nahmen sie offenbar nicht zur Kenntnis. Ein Ehepaar Ende fünfzig, das aus Michigan kam, hatte Carolyn im Essbereich beobachtet und gedacht, dass sie mit einem anderen Mann als mit Lester verheiratet sei. Entweder das, oder die Personenbeschreibung von Lester, die die Ehefrau lieferte, war so wohlwollend, dass es ans Absurde grenzte. Bei ihr hatte er Haare und war zehn Zentimeter größer als in Wirklichkeit. Carolyn wurde als lebhafte Frau mit einer lauten Stimme und einem ebensolchen Lachen geschildert. Viel mehr hatten die beiden nicht zu sagen.
Die Frau war so freundlich, Anna den Mann zu zeigen, den sie irrtümlicherweise für Mrs Van Slykes Ehemann gehalten hatte. Er war der Einzige, der in der fraglichen Nacht in Fifty Mountain gewesen war und mit dem Anna noch nicht
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