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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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geredet hatte. Sein Zelt stand auf dem Zeltplatz, der am weitesten entfernt vom Essbereich war. Wie auf den anderen Zeltplätzen auch boten die Lücken zwischen den verrottenden Baumstümpfen eine atemberaubende Aussicht auf das von Gletschern zerfurchte Plateau des Flattop Mountain. Als Anna sich dem Mann näherte, saß er auf einer Plane. Sein Rücken lehnte am verkohlten Stamm einer Fichte, die das Feuer überlebt hatte. Zwei Jahre später kämpfte sie immer noch, halb schwarz, halb grün, wie eine verwundete Frau, die zwar Schönheit und Kraft, aber nicht die Entschlossenheit im Herzen verloren hat.
    Der Mann unter diesem heldenhaften Baum machte keine so gute Figur. Wie bei Lester war auch seine Wanderkleidung verdächtig neu, und er rutschte hin und her wie ein Mensch, dessen Hinterteil nur mit ledernen Autositzen und Barhockern Erfahrung hatte. Obwohl die Sonne unterging und die Temperaturen erheblich gesunken waren, trug er nur ein dünnes T-Shirt und hatte die Arme um die Knie geschlungen, um sich zu wärmen. Er war um die fünfzig und hatte dichtes, rotbraunes Haar. Von grauen Strähnen fehlte jede Spur. Anna hatte den Verdacht, dass er diesen Umstand eher einer Haartönung als guten Genen verdankte. Sie konnte verstehen, warum das Ehepaar aus Michigan ihn mit Mr Van Slyke verwechselt hatte. Obwohl sie Carolyn nur als Leiche kannte, schien sie besser zu diesem Mann zu passen als zu dem gebeugten, blassen, vorzeitig gealterten Lester.
    »Hallo, entschuldigen Sie die Störung«, sagte Anna und verharrte am Rand des imaginären Kreises rings um sein Zelt. Ungebeten jemandes Zeltplatz zu betreten war genauso unhöflich wie in ein Haus zu marschieren, ohne anzuklopfen.
    »Hallo.« Er schlug nach einem Moskito, machte allerdings keine Anstalten aufzustehen. Offenbar weder ein erfahrener Bergsteiger noch ein Gentleman.
    »Mein Name ist Anna Pigeon«, stellte sie sich vor. »Ich bin Parkpolizistin. Wir befragen die Leute, die in der Nacht, in der die Frau verschwunden ist, hier gezeltet haben.«
    »Davon weiß ich nichts. Ich bin hergekommen, um Abstand zu meinen Mitmenschen zu gewinnen, und war die meiste Zeit allein.« Die Antwort war auf eine Stelle auf halber Strecke zwischen seinen Augen und Annas Knie gerichtet und wurde von weiteren Schlägen nach Moskitos begleitet.
    »Wollen Sie sich nicht lieber eine Jacke holen?«, meinte Anna. Das sagte sie nicht deshalb, weil sie es nicht ertrug, einen Menschen leiden zu sehen, sondern um sich seine volle Aufmerksamkeit zu sichern.
    Sie erreichte ihr Ziel.
    »Eine Jacke?« Plötzlich argwöhnisch sah er sie an. »Warum?«
    Anna zuckte die Achseln. Vielleicht reagierte er ja aus Eitelkeit so verschnupft auf Bemerkungen über seine Kleidung.
    »Es wird kalt. Außerdem fressen die Moskitos Sie buchstäblich auf. Ich dachte, es wäre bequemer so.«
    Er wurde lockerer. »Nein. Alles bestens. Möchten Sie sich setzen? Holen Sie sich einen Stuhl.« Er lachte gereizt auf, offenbar verärgert, dass der Glacier National Park es nicht für nötig hielt, seine Zeltplätze mit Mobiliar auszustatten. »Diese Moskitos sind eine Plage. Ich dachte, hier oben gäbe es die Biester nicht. Gottes eigenes Land und so weiter.«
    »Ich habe ein Anti-Moskito-Mittel im Rucksack, das ich Ihnen leihen kann«, erbot sich Anna und ließ sich auf dem harten Boden neben seiner Plane nieder.
    Bereitwillig griff er nach dem Insektenmittel und verteilte es auf Gesicht und Armen. »Bill McCaskil«, sagte er, während er den Behälter zurückgab. Unbelästigt von Blutsaugern, war er schon viel zugänglicher. Anna machte sich an die Vernehmung.
    »Sind Sie Mrs Van Slyke irgendwo auf dem Zeltplatz begegnet?«, fragte sie.
    »Nein, wie ich schon erklärt habe, bin ich lieber allein.«
    Anna wartete ab. Er hatte zu schnell geantwortet. Und tatsächlich schien ihn das Schweigen so zu belasten, dass er noch etwas hinzufügte.
    »Carolyn Van Slyke? War das die blonde Dame mit den Speckröllchen an den Hüften? Mit ihr könnte ich ein paarmal gesprochen haben.«
    Das hatte sich Anna bereits gedacht. Das ältere Ehepaar hatte irrtümlicherweise angenommen, dass Carolyn und Bill McCaskil miteinander verheiratet waren. Und zu diesem Schluss konnten Fremde nur dann kommen, wenn sie sie zusammen gesehen hatten. Anna fiel auf, dass sie die Tote – beziehungsweise die Vermisste – nur als »Mrs Van Slyke« bezeichnet hatte. McCaskil hingegen nannte sie Carolyn. Also hatten die beiden einander beim Vornamen

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