Blutköder
gewesen wäre.
»Sieht ganz danach aus, als müssten sie noch eine Woche oder zehn Tage bleiben. Das FBI interessiert sich nicht für einen Mord in der Wildnis, wenn kein Handel mit Drogen oder Waffen im Spiel ist. Also liegt die Zuständigkeit bei uns. Um es kurz zu machen: Ich möchte, dass Sie in dieser Sache mit mir zusammenarbeiten. Als mein Mädchen für alles sozusagen.«
Mädchen für alles war zwar verglichen mit Hilfskraft für niedrige Arbeiten eine gewaltige Beförderung, doch diesmal nahm Anna es ihm krumm, und zwar nicht das Wort »Mädchen«, sondern die Rolle, die er ihr zugedacht hatte. Aber sie schwieg und zählte auf Spanisch bis zehn, um ihm die Chance zu geben, sich aus der Affäre zu ziehen. Sie war bei seis angelangt, als er die Initiative ergriff.
Offenbar hatte ihr Schweigen ihm vermittelt, dass seine Bemerkung nicht zu entschuldigen und sexistisch gewesen war, denn Erschrecken zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Es war ein politischer und persönlicher Fauxpas, der ihn nicht nur heftig erröten ließ, sondern ihm vermutlich auch ordentlich Angst einjagte. In von Eigennutz und Verfolgungswahn geprägten Zeiten wie diesen konnte eine solche Äußerung einen Menschen vor den Kadi bringen, wenn sie den falschen Leuten zu Ohren kam.
Anna war gespannt, wie er sich aus dem ziemlich tiefen Loch, das er sich geschaufelt hatte, herausarbeiten würde. Sie freute sich schon auf einen Schwall kreativer Ausflüchte, die – wie ein Lufterfrischer – den üblen Geruch zwar verändern, allerdings nicht vertreiben würden. Doch sie hatte Harry unterschätzt.
Als er sich mit beiden Händen übers Gesicht fuhr, bemerkte sie zum ersten Mal, wie müde er wirkte. Da seine Leute mit der Bekämpfung eines Brandes beschäftigt waren, war er vermutlich bis spät in die Nacht im Dienst gewesen, um Wilderer zu stellen oder einen Streit zwischen Besuchern zu schlichten.
»Lassen Sie mich mit einer Entschuldigung beginnen. Diese Bemerkung ist ein Relikt aus einer Zeit, als ich noch ein Dinosaurier war und es nicht besser wusste. Das ist zwar keine Rechtfertigung, aber …«
»Kein Problem«, unterbrach Anna, denn sie spürte, dass er sich nur verplappert hatte und seinen Fehler aufrichtig bereute. Außerdem brauchte sie Antworten auf einige Fragen, und es hörte sich ganz danach an, als würde sie nun die Blankovollmacht bekommen, sie zu stellen.
»Ich bin Ihr Mädchen«, meinte sie.
Ruick lachte auf. »Woran liegt es bloß, dass ich Ihnen das nicht abnehme?«
9
Der restliche Vormittag wurde mit der Ausarbeitung der Einzelheiten verbracht. Der Polizeichef hatte nie ernsthaft befürchtet, dass Anna ablehnen könnte. »Nein« war nämlich ein Wort, das bei Polizeichefs grundsätzlich auf taube Ohren stieß. Ruick hatte bereits Annas Chef John Brown angerufen und sich vergewissert, dass dieser nichts dagegen hatte, wenn er sich Anna auslieh. Sollten die Mordermittlungen sich nicht mit dem DNA -Projekt vereinbaren lassen, würde sie in der nächsten Phase einsteigen, Unterlagen auswerten, anstatt an Exkursionen teilzunehmen, und so viel wie möglich dabei lernen.
Nachdem dieser Punkt zufriedenstellend geklärt war, schilderte Harry Anna die Pläne der beteiligten Personen. Wenn die Autopsie abgeschlossen war und Lester die Beerdigung seiner Frau in die Wege leiten konnte, wollte er zu Fuß nach Fifty Mountain zurückkehren. Harry hatte Einwände erhoben. Schließlich war Les nicht sehr gut in Form, unerfahren und wahrscheinlich auch emotional aufgewühlt. Die optimale Mischung also, wenn man es auf eine Katastrophe anlegte. Allerdings gab es keine rechtliche Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Selbstmord war eine Straftat, Dummheit leider nicht.
Rory hatte die Erlaubnis, weiter mit Joan Rand am Bären- DNA -Projekt zu arbeiten, eine Entwicklung, die Anna gar nicht gefiel. Auch wenn die Beweise gegen Rory auf tönernen Füßen standen, war er ein Mordverdächtiger. Da Anna Joans Vertrauen nicht missbrauchen wollte, verriet sie Harry nicht, dass Rory die Wissenschaftlerin an ihren Sohn Luke erinnerte, obwohl sie befürchtete, ihre Einstellung zu dem Jungen könnte dadurch beeinflusst werden. Sie würde es gegenüber Rory an der nötigen Vorsicht fehlen lassen und ihn eher wie einen Ersatzsohn als wie einen möglicherweise gefährlichen Mann behandeln. Ruick hörte sich Annas Einwände zwar aufmerksam an, doch da sie nicht mit konkreten Verbesserungsvorschlägen aufwarten konnte, beharrte er auf dem Status
Weitere Kostenlose Bücher