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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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quo.
    Offiziell würde Anna weiter mit Joan zusammenarbeiten und sie und Rory in die Wildnis begleiten. Aber ihre wichtigste Aufgabe würde die Aufklärung des Mordes an Carolyn Van Slyke sein.
    »Ich möchte, dass Sie heute Rory befragen. Ich übernehme seinen Dad«, verkündete Harry. »Etwas an den beiden ist nicht koscher, aber ich komme verdammt noch mal nicht dahinter, was es ist.«
    Die beiden Van Slykes trafen kurz vor drei ein. Anna begrüßte sie in der Vorhalle, einem schlichten, schmucklosen Raum gleich hinter den Glastüren, wo sich auch der Empfang befand. Ein um Jahre gealterter Lester saß auf dem einzigen Stuhl. Sein Sohn, die Hände tief in den Hosentaschen, stand vor einem Schwarz-Weiß-Foto, das die alte Zentrale darstellte, und musterte es, als müsse er gleich Testfragen zu ihrer Architektur beantworten.
    Anna schickte Les den Flur hinunter zum Büro des Polizeichefs und ging mit Rory in den Konferenzraum. Joan war fort, und Anna vermisste sie. Sie hätte sie gern bei der Vernehmung dabei gehabt, obwohl sie es sich nie bewusst eingestanden hatte.
    »Hast du etwas dagegen, wenn ich das Gespräch auf Band aufnehme?« Anna legte das Aufnahmegerät auf den Tisch.
    »Egal.«
    Anna drückte auf RECORD .
    »Möchtest du etwas trinken?«, erkundigte sie sich, als er sich auf dem Stuhl niederließ, wo Joan vorhin gesessen hatte, und sich geistesabwesend um die eigene Achse drehte. »Cola, Kaffee oder so?«
    »Nichts. Ich möchte nichts.«
    Anna war erleichtert. Sie hatte es ihm aus reiner Gewohnheit angeboten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo man in der Zentrale des Glacier solche Erfrischungen auftreiben konnte. »Ich auch nicht«, sagte sie und setzte sich. Eine volle Minute lang – ein beträchtlicher Zeitraum, um zu schweigen, wenn zwei Menschen einander noch nicht lange kennen – beobachtete sie ihn, um festzustellen, wie er sich verhalten und wie er unter Druck reagieren würde.
    Rory hörte auf, sich zu drehen, und beschäftigte sich damit, aus dem Fenster zu starren und den Wartungsfahrzeugen nachzublicken, die am Parkplatz vorbei zum Betriebshof rollten. Sein Hals und seine Schultern hatten etwas Steifes an sich, ein Hinweis darauf, dass er dieses Spiel bis zum sprichwörtlichen Sankt-Nimmerleins-Tag weitertreiben würde. Offenbar hatte er sich in seinem jungen Leben daran gewöhnen müssen, seine innere Welt vor äußeren Stürmen zu schützen.
    Anna ließ noch dreißig Sekunden verstreichen, um sich zu vergewissern. Sie betrachtete Rory, seinen trügerisch zarten Körperbau, das dichte sandfarbene Haar, das ihm strohig in die faltenlose Stirn fiel, und die tief liegenden blauen Augen, und fand nicht, dass er wie ein Junge aussah, der seine Mutter getötet hatte. Aber woran erkannte man eigentlich einen Muttermörder? In der Welt der Fantasie waren sie hinterhältige, verschlagene, behaarte Gesellen mit Hörnern. In Wirklichkeit jedoch handelte es sich einfach nur um Menschen. Um Jugendliche. Das, was in ihnen zerbrochen war, verbarg sich tief in ihrem Inneren und war von außen nicht zu erkennen. Dass Kinder ihre Eltern umbrachten, kam zwar selten vor, war jedoch nicht ausgeschlossen. Oft waren es gerade die »braven« Jungen. Mit Ausnahme von Lizzy Borden waren es, wie Anna bemerkt hatte, immer Jungen. Sie konnte sich an drei Fälle in den letzten beiden Jahren erinnern. Söhne, die Mom und Dad getötet hatten. Allerdings niemals verstümmelt.
    »Das mit deiner Stiefmutter tut mir wirklich leid«, begann sie.
    Widerstrebend wandte sich Rory wieder zum Zimmer um. Doch sein Blick wanderte nicht zu Anna, sondern zu dem Tisch zwischen ihnen.
    »Nun … ja … so etwas passiert eben.«
    Anna seufzte leise auf. Es passiert eben? Oh, mein Gott. »Wie passiert es denn?«, hakte sie sachlich nach.
    »Menschen sterben.«
    Anna erkannte an seinem Tonfall, dass er sich um eine gleichmütige Wirkung bemühte. Aber die Verbitterung, die darin mitschwang, machte diesen Versuch zunichte. Ihr fiel ein, dass seine leibliche Mutter auch gestorben war. Also war die Erfahrung für Rory in doppelter Hinsicht traumatisch, denn der zweite Todesfall würde unweigerlich dazu führen, dass er den ersten noch einmal durchlebte. Anna stellte sich gedanklich um. Dieses Aufbrechen der schwersten aller Wunden, die man in der Kindheit davontragen konnte, erklärte die merkwürdigsten Reaktionen.
    »Da kann ich nicht widersprechen«, sagte sie, worauf Rory sie ansah. Anna erkannte in den blauen Tiefen seiner Augen das

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