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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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noch sagen oder tun sollte, drehte sie sich um und ging los. Die sich ständig wiederholende Bewegung gab ihrem Gehirn neue Nahrung. Es begann, wie wild zu arbeiten, und bald forderten Gedanken lautstark Gehör und suchten einen Weg aus dieser misslichen Lage.
    Sobald sie zu Hause war, konnte sie Harry Ruick anrufen, ihn aus dem Bett klingeln und ihm von Rorys Drohung erzählen. Ein Erstschlag. Vielleicht würde das den Polizeichef ja ein wenig für sie einnehmen, sodass er ihr glaubte. Allerdings nicht viel. Der Schluss, dass Rory ihr nicht mit einer Lüge, sondern mit der Enthüllung der Wahrheit gedroht hatte, lag einfach zu nah. Und warum unternahm sie mitten in der Nacht mit einem achtzehnjährigen Jungen Spaziergänge?
    Harry kannte sie nicht gut. Sie waren einander erst vor ein paar Tagen begegnet. Wie sollte er ihre persönlichen Vorlieben und Eigenarten beurteilen? Er wusste nur, dass sie Witwe und seit vielen Jahren ohne Mann war. Rory war ein hübscher Junge. Also lag es durchaus im Bereich des Möglichen. »Mein Gott«, hörte Anna sich flüstern und biss die Zähne zusammen, damit ihr nicht noch etwas herausrutschte.
    Ruick würde ihren Chef John Brown anrufen. Doch Brown kannte sie auch nicht viel besser und würde seinerseits ihre Bezirksranger im Port Gibson District des Natchez Trace verständigen.
    Anna war sicher, dass mindestens einer von ihnen die Gelegenheit begrüßen würde, die schlimmsten Verdächtigungen gegen sie in die Welt zu setzen.
    In den Fall, den Anna vor Kurzem dort aufgeklärt hatte, waren zahlreiche männliche Jugendliche verwickelt gewesen, einigen von ihnen hatte sie ziemlich die Hölle heißgemacht. Was würden die wohl verbreiten, um sich an ihr zu rächen? Ganz gleich, wie das Trauerspiel auch endete, es würde langwierig und kräftezehrend werden. Anna würde nicht ohne Blessuren davonkommen. Zunächst würde man sie in den ersten Flieger nach Mississippi setzen. Selbst wenn Ruick annahm, dass Anna keine Schuld traf, würde er nicht wagen, sie hier zu behalten. Weder als Beteiligte an den Ermittlungen noch im DNA -Projekt. Anders als Rory war sie keine Heranwachsende und auch keine Zivilistin. Also bestand nicht die Notwendigkeit, sie mit Samthandschuhen anzufassen. »Mein Gott«, flüsterte Anna wieder und konnte den Rest nicht für sich behalten. »Du bist ein verdammtes Genie, Rory. Weißt du das?«
    »Sorry«, wiederholte er traurig. Anna hätte ihn am liebsten erwürgt.
    Er hatte ihre Angst bemerkt und sie aus ihren gemurmelten Kraftausdrücken herausgehört. Also war ihm klar, dass er gewonnen hatte. Sie war in der Situation, sich verteidigen zu müssen – wenn sie nicht gar schon besiegt war.
    Anna hatte vor, ihn noch eine Weile in dieser Illusion zu wiegen.
    Inzwischen hatten sie auf einem Rundweg wieder die Weggabelung erreicht, die zu Joans Haus führte. Als sie einbogen, wurde Anna langsamer und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich fühle mich nicht so gut«, meinte sie. Es war nicht schwierig, glaubhaft zu klingen.
    »Wir sind fast da.«
    Anna überlegte, ob sie ein paar Tränen hervorpressen sollte. Allerdings war sie so aus der Übung, dass sie es vermutlich nicht schaffen würde. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es ohnehin zu dunkel war, um die volle dramatische Wirkung zu erzielen.
    Da Rory ein treuer Bewunderer von Menschen war, die sich nichts gefallen ließen, versuchte Anna gar nicht erst, an sein Mitgefühl zu appellieren. Er hätte sie vermutlich nur als jämmerlichen Waschlappen verhöhnt. Aber das war kein Problem. Sie musste ihn nur noch eine Weile emotional beschäftigen.
    Als sie Joans Auffahrt erreichten, gestattete Anna sich einen erschöpften Seufzer. »Mein Gott, habe ich einen Durst«, flüsterte sie. »Ich brauche einen Schluck Wasser.«
    »Geh nur«, erwiderte Rory und blieb zurück. »Ich lege mich ins Bett.«
    »Nein.« Anna spürte, wie Panik in ihr aufstieg. »Bitte«, fügte sie hinzu. »Ich werde Joan nicht wecken. Wir müssen reden. Lass mich nur rasch etwas trinken.«
    »Wenn du sie weckst«, sagte Rory, »wäre das gar nicht gut für dich.«
    »Nein, das werde ich nicht«, versprach Anna. Joan Rand zu wecken und Rory damit zu zwingen, seine Karte auszuspielen, war das Letzte, was sie wollte. »Mein Rucksack steht gleich hinter der Tür. Es ist eine Wasserflasche drin. Warte, bis ich sie geholt habe. Dazu muss ich nicht einmal ins Haus.« Unentschlossenheit zeichnete sich auf Rorys Gesicht ab. Auch Verachtung. Doch

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