Blutköder
Klang, der an seine Stelle getreten war, erschreckte Anna noch mehr. »Wenn du Les nicht in Ruhe lässt und dich in Zukunft nicht nur noch mit den Bären oder sonst etwas anderem beschäftigst, wirst du es bereuen. Wirklich bereuen.«
Die abgedroschene Drohung hätte sich eigentlich kindisch und leer anhören müssen, tat es allerdings nicht. Es fehlte das Quäntchen Unsicherheit, das auf Verzweiflung oder Hilflosigkeit hingewiesen hätte. Rory hatte offenbar konkrete Pläne. Das spürte Anna bis tief in ihr von Kälte erfülltes Mark.
Rory hatte die Gelegenheit verpasst, gewalttätig zu werden. Inzwischen befanden sie sich auf einer Straße, die auf beiden Seiten von ordentlichen Häusern gesäumt wurde. Petunien, bei Tageslicht ein Farbenmeer, quollen schwarz wie Teer aus den Blumenkästen an den Fenstern. Was konnte ein Schuljunge ihr schon antun? Ihr die Reifen aufschlitzen? Ihr einen brennenden Hundehaufen auf der Türschwelle hinterlassen? Ihr »Fick dich« ans Garagentor sprühen? Wenn Rory sie körperlich bedrohte, brauchte sie das nur Harry zu melden. Dann würde er sofort aus dem Park entfernt und in Begleitung eines Wildhüters zum Flughafen geschickt werden. Ganz gleich, womit er auch drohte, das Ergebnis würde dasselbe sein. Anna war erwachsen und hatte Beziehungen. Er war ein Kind. Das musste er doch begreifen.
»Was wirst du tun, wenn ich nicht aufhöre, gegen Les zu ermitteln?«, fragte sie, inzwischen wirklich neugierig.
»Ich werde überall herumerzählen, du hättest mich sexuell belästigt«, entgegnete er seelenruhig.
Anna lachte auf.
»Du hast Druck auf mich ausgeübt«, fuhr er fort. »Und deine Position ausgenützt, um mich zum Sex zu zwingen. Du hast mich verführt und mich Dinge tun lassen, derer ich mich jetzt schäme.«
Annas Gelächter verstummte. Sie hielt inne. Rory auch. Mitten auf der verlassenen Straße standen sie einander gegenüber. Eine schreckliche Furcht stieg in Anna auf. Rory hatte tatsächlich einen Weg gefunden, ihr die Pistole auf die Brust zu setzen. Eine Anschuldigung wie diese würde dafür sorgen, dass sie, nicht er, aus dem Park geworfen wurde. Und zwar unabhängig davon, ob Harry Ruick dem Jungen glaubte oder nicht. Der Vorwurf allein würde genügen. Falls Rory Anzeige erstattete, würde das Leben, das Anna kannte und liebte, in hämischem Grinsen, abfälligen Blicken, Zeugenaussagen und Anwaltsterminen untergehen. Und wenn die Sache endlich ausgestanden war, würde sie ein seelisches Wrack und finanziell ruiniert sein. Möglicherweise würde die Parkaufsicht ja Partei für sie ergreifen. Doch nur unter Vorbehalt. Man würde sie so schnell wie möglich loswerden wollen, um den eigenen Hals zu retten.
Selbst wenn man wusste, dass es nicht wahr war.
Als Rorys Miene sich veränderte, wurde ihr klar, dass sie so dumm gewesen war, sich die Angst anmerken zu lassen. Sie stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass selbst ein unreifer Junge sie im fahlen Mondlicht erkannte.
»Das soll wohl ein Scherz sein«, sagte sie. »Damit kommst du niemals durch.« Beide Aussagen stimmten nicht.
»Als ich in der Junior-Highschool war, ist eine Lehrerin deswegen im Gefängnis gelandet«, erwiderte er.
Anna erinnerte sich an den Fall. Die Medien waren über die Angeklagte hergefallen wie die wilden Tiere. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie man ihr Hunderte von Mikrofonen ins Gesicht hielt. Galle stieg ihr in der Kehle hoch. Sie schluckte sie hinunter. Wut und Furcht verbanden sich in ihrem Blut zu einem so kräftigen Gemisch, dass sie ein inneres Zittern spürte. Renn los, schrei, schlag dem Jungen das Gesicht ein, schimpfe, tobe. Das Bedürfnis, all diese Dinge gleichzeitig und in voller Lautstärke zu tun, lähmte sie wie der Traum von dem Bären. Diesmal war auch ihr Gehirn wie erstarrt. Sie konnte nicht mehr denken.
Hilflos. So fühlte sich eine zappelnde und sich verzweifelnd windende Fliege zwischen den Fingern eines bösartigen Jungen, der ihr die Flügel ausriss.
»So etwas würdest du niemals tun«, stellte Anna voller Hoffnung fest.
»Sorry«, entgegnete Rory, und der Hoffnungsschimmer verlosch schlagartig. Wenn er gehässig oder rachsüchtig gewesen wäre, hätte sie noch eine Chance gesehen. Doch Rory hielt seinen Plan für einen zwar bedauerlichen, aber leider unumgänglichen Weg, um ein hehres Ziel zu erreichen.
»Scheiße«, murmelte Anna und hätte sich ohrfeigen können, weil sie sich etwas anmerken ließ. Da sie nicht wusste, was sie sonst
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