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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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ob diese sich gegen sie oder gegen sich selbst richtete, konnte Anna nicht feststellen. »Bitte«, flehte sie. »Bitte. Wir müssen reden.«
    »Ich ändere meine Meinung nicht«, stellte Rory fest.
    Anna nahm das als Erlaubnis und huschte die Betonstufen hinauf. Sie öffnete die Tür und beugte sich hinein, wobei sie darauf achtete, nicht aus Rorys Blickfeld zu geraten. Ihr Rucksack lehnte hinter dem Sessel, wo sie ihn hingestellt hatte. Nachdem sie kurz in seinen Eingeweiden gewühlt hatte, trat sie, den Rucksack in der einen, die Wasserflasche in der anderen Hand, wieder in die Nacht hinaus.
    »Komm«, meinte Anna und führte ihn zum Garagentor. »Hier können wir reden. Joans Zimmer ist auf der anderen Seite des Hauses. Sie wird uns nicht hören.«
    »Was ist, wenn uns jemand sieht?«, fragte Rory.
    Er wurde unsicher. Anna musste schnell zuschlagen. »Wäre das nicht günstig für dich?«, gab sie spitz zurück. Ihr plötzlicher Stimmungswandel brachte ihn aus dem Konzept.
    »Wahrscheinlich schon«, wich er aus.
    »Setz dich«, befahl Anna, ohne sich weiter mit Bitten und Betteln aufzuhalten. »Wenn du mich schon erpressen willst, dann nenne mir wenigstens deine Bedingungen.«
    »Ich sehe den Sinn nicht …«, begann er.
    »Der Sinn ist, dass ich persönlich keine Erkundigungen über Les einholen soll, richtig, Rory?«
    »Ja, das ist richtig.«
    »Und lass mich eines klarstellen, denn du hast mich vorhin ein bisschen überrumpelt. Wenn ich nicht aufhöre, gegen deinen Dad zu ermitteln, wirst du mich beschuldigen, ich hätte dich sexuell belästigt? Obwohl ich dich niemals angefasst und dir gegenüber nie sexuelle Andeutungen gemacht habe?«
    »Sorry«, sagte Rory zum dritten Mal.
    »So lautet also deine Drohung, oder?«, beharrte Anna. Er rutschte hin und her und schaute immer wieder über die Schulter. Jeden Moment würde er aufspringen, und dann war ihre letzte Chance vorbei.
    »Genau«, antwortete Rory. »Und ich werde es auch tun.«
    Beinahe hätte Anna erleichtert aufgeatmet, hielt sich aber zurück. »Und das, obwohl ich mich dir gegenüber niemals anzüglich verhalten habe«, hakte sie nach.
    »Ich tue es trotzdem«, verkündete Rory, mit dem Brustton der Überzeugung.
    Nun hatte Anna, was sie brauchte. Den Rucksack schützend unter den Arm geklemmt, lehnte sie sich entspannt ans Garagentor und trank endlich das Wasser, das sie angeblich so dringend gebraucht hatte.
    »Was hat dein Dad zu verbergen, dass du bereit bist, deine unsterbliche Seele an den Teufel zu verkaufen, damit ich es nicht herausfinde?«, erkundigte sie sich ernst.
    Rory ahnte, dass sich etwas verändert hatte, wusste jedoch nicht, was es war. Er stand auf und sah sich um, als rechne er damit, dass plötzlich Polizisten hinter den ordentlich gestutzten Büschen hervorspringen würden. Nichts rührte sich.
    »Du hast nicht etwa Angst, ich könnte dahinterkommen, dass Les seine Frau umgebracht hat, oder?«, fragte Anna in scharfem Ton. »Und wenn es das nicht ist, was dann?«
    »Ich muss gehen«, erwiderte Rory. »Ich werde tun, was ich gesagt habe. Also, Finger weg.« Mit diesen Worten lief er die Straße entlang zu dem Schlafsaal, den er mit einigen anderen Jungen teilte.
    Anna blieb sitzen und blickte ihm nach, bis er um die Ecke gerannt war und ein Haus ihr die Sicht auf ihn versperrte. Danach lauschte sie. Eine halbe Minute noch hörte sie seine raschen Schritte. Danach war er fort, und die unheimliche Stille einer Sommernacht im Glacier-Nationalpark legte sich wieder über die Siedlung. Anna öffnete ihren Rucksack und erkannte ihr Diktiergerät an dem rot leuchtenden Lämpchen. Ohne es aus der Schutzhülle aus Segeltuch zu holen, drückte sie eine Weile auf REWIND und dann auf PLAY .
    » Ich tue es trotzdem «, ertönte Rorys Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Die Batterien funktionierten also.

11
    Sie hatten, wie vom Polizeichef vorgeschlagen, zwar früh Feierabend gemacht, doch da Rory Van Slyke Anna mit seinen erpresserischen Plänen aus dem Schlaf gerissen hatte, war die Nacht dennoch zu kurz gewesen. Den Rest verbrachte Anna schlafend und mit der zuvor in einem zugeklebten Plastikbehälter verstauten Kassette unter dem Kopfkissen. Die Kassette war ihr einziger Schutz gegen einen unbeschreiblichen Akt seelischer Grausamkeit. Anna würde keine Ruhe finden, bis sie sie mehrfach kopiert und an sicheren Orten versteckt hatte.
    Zwischen den kurzen Phasen, die sie einnickte und die als Schlaf genügen mussten, und – erfolgreicher

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