Blutköder
diese alten Büros durch eierschalfarbene, mit Teppichboden ausgestattete Arbeitskabinen zu ersetzen, würde Anna sich gezwungen sehen, ihren Hut zu nehmen.
Die Zeit drängte. Anna unterdrückte das Bedürfnis, in Sachen Lester Van Slyke zu recherchieren. Das Geheimnis, das sein Sohn so unbedingt wahren wollte, stand sicher, wenn vielleicht auch nur am Rande, in Zusammenhang mit dem Tod seiner Frau. Bevor sie in Lesters Vergangenheit herumwühlte, musste sie deshalb zuerst einen Zeitrahmen festlegen. Anderenfalls bestand die Gefahr, dass sie die Information vielleicht nicht erkannte, sofern sie das Glück hatte, darüber zu stolpern.
Also schob sie Rory, seine Drohung, die Tonbandkassette und die letzte Nacht beiseite und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.
Selbstverständlich hatte Anna sich die Daten der befragten Personen notiert. Sie kannte die Namen, Adressen und Telefonnummern von Bill McCaskil, den Van Slykes und Mr und Mrs Roger Heidleman aus Detroit, Michigan. Die Heidlemans hatten ihr erzählt, dass McCaskil ziemlich viel Zeit mit dem Mordopfer verbracht hatte.
Obwohl sich diese Angaben mühelos überprüfen ließen, beschloss Anna, bei Geoffrey Mickleson-Nicholson anzufangen. Ruick schien sich nicht sonderlich für ihn zu interessieren, während Joan den geheimnisvollen einsamen Jungen offenbar ins Herz geschlossen hatte. Anna wollte mehr über ihn wissen. Die weibliche Intuition oder die jahrelange Erfahrung als Parkpolizistin hatten in ihr den Verdacht geweckt, dass er in die merkwürdigen Ereignisse verwickelt war. Deshalb versuchte sie es mit verschiedenen Schreibweisen für beide Namen und gab Mickleson und Nicholson ein.
Es überraschte sie nicht weiter, dass niemand, der so hieß, eine Genehmigung zum Zelten beantragt hatte. Außerdem war auch kein Mensch dieses Namens innerhalb der letzten drei Jahre im Staat Montana wegen eines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung belangt worden. Allerdings war die Suche nur oberflächlich, da Anna die persönlichen Daten fehlten. Sie konnte auch keine Haftbefehle oder Gerichtsurteile gegen einen Geoffrey Mickleson oder Nicholson entdecken.
Weitere Nachforschungen ergaben zu ihrer Beruhigung, dass im Mittleren Westen die Welt offenbar noch in Ordnung war. Mr und Mrs Roger Heidleman hatten alles richtig gemacht. Ihre Genehmigung zum Zelten war vorschriftsmäßig beantragt worden und verriet Anna die Zulassungsnummer ihres Autos, die sie zu Rogers Führerschein und seinem Geburtsdatum führte – den Schlüsseln zum Königreich der Daten. Bis auf einen Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsüberschreitung im Jahr 1998 – vierundachtzig in einer Tempo-Sechzig-Zone – war Heidleman sauber. Seine bessere Hälfte hatte kein einziges Mal gegen die Verkehrsregeln verstoßen.
Auch McCaskil hatte ein Antragsformular ausgefüllt, und zwar für die ganzen zwei Wochen, die im Fifty Mountain Camp erlaubt waren. Anna erschien das eigenartig. Zwei Wochen waren eine ziemlich lange Zeit, um zu zelten, insbesondere an ein und demselben Ort. Allein das Gewicht der benötigten Lebensmittel konnte selbst einen erfahrenen Bergsteiger ins Straucheln bringen. Außerdem hatte McCaskil auf sie den Eindruck eines Neulings gemacht, der sich in der Natur eher fehl am Platze zu fühlen schien.
Anna gab die auf dem Formular vermerkte Zulassungsnummer seines Wagens ein und folgte der Datenautobahn auf demselben Weg wie bei den Heidlemans. Das Ergebnis war um einiges aufschlussreicher, da es sich bei McCaskil allem Anschein nach nicht um eine Stütze der Gesellschaft handelte. Dreimal war er wegen Betrugs angeklagt und zu guter Letzt verurteilt worden und hatte achtzehn Monate in einem Staatsgefängnis in Florida abgesessen. Bei dem ersten Prozess war es um Kreditkartenbetrug gegangen. Die Haftstrafe hatte er sich wegen eines Immobiliengeschäfts eingehandelt. Die dritte Anzeige war erfolgt, da er gefälschte, angeblich in maritimen Naturschutzgebieten gültige Angelscheine verkauft hatte. An seine Gefängnisakte heranzukommen dauerte eine Weile, aber schließlich hatte Anna Erfolg. McCaskil hatte wegen »stressbedingten zwischenmenschlichen Fehlverhaltens« fünf Wochen in der Gefängnispsychiatrie verbracht. Angesichts dessen, dass er zu diesem Zeitpunkt eine Haftstrafe verbüßte, konnte das alles Mögliche bedeuten. Abgesehen von dem Psychiatrieaufenthalt war er ein unauffälliger und ruhiger Gefangener gewesen.
McCaskil war also kein braver Bürger, jedoch bis auf sein
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