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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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– während der langen heißen Dusche, die sie sich gönnte, bevor Joan aufwachte, grübelte Anna darüber nach, wie sie weiter mit dem Erpresser verfahren sollte. So schmerzlich es auch war, es sich einzugestehen, traute sie der Nationalen Parkaufsicht im Grunde genommen nicht. Dieser Argwohn hatte keine persönlichen Gründe. Sie war misstrauisch gegenüber jeder Organisation, die von einem Ausschuss geleitet wurde, und auch vielen anderen, bei denen es sich nicht so verhielt.
    Obwohl sie das Geständnis auf Band hatte, beschloss sie, Ruick nichts von Rorys Drohung zu erzählen. Die Stimmung im Land tendierte zunehmend in Richtung Verfolgungswahn, und die Amerikaner waren nur zu gern bereit, ihre Wahlfreiheit auf dem Altar einer vermeintlichen Sicherheit zu opfern. Starre Vorgaben bei der Urteilsfindung schränkten die Richter ein und verboten es ihnen, Nachsicht oder gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Null-Toleranz-Regeln in Sachen Waffen in den Schulen zwangen Lehrer, sieben-, acht- oder neunjährige Kinder wegen eines mitgebrachten Messers zum Bestreichen eines Erdnussbutterbrots vom Unterricht zu suspendieren. Die Abschaffung von Bewährungsstrafen oder Hafturlaub bei guter Führung untergrub das Belohnungssystem in den Gefängnissen.
    Der einzelne Mensch trat die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, an den Staat ab, weil er nicht mehr bereit war, Verantwortung zu tragen. Die Gesellschaft als Ganzes stülpte jedem eine Einheitsgröße über, um sich des Problems zu entledigen, dass die Rechtsprechung keine exakte Wissenschaft war.
    In dieser Hinsicht bildete auch die Parkaufsicht keine Ausnahme. Schon der Hauch einer Andeutung, es könnte einen Prozess geben, sorgte dafür, dass die ganze Chefetage geschlossen in Deckung ging. Eine drohende Klage wegen sexueller Belästigung würde allgemeine Lähmungserscheinungen auslösen. Selbst die Enthüllung eines Plans, unbegründete Anschuldigungen gegen Anna zu erheben, würde nur zur Folge haben, dass sie in einem Gefängnis aus Papierkrieg und Gesprächen hinter vorgehaltener Hand landete.
    Um sich nicht dieser ganz besonderen Form der langsamen Folter ausliefern zu müssen, blieben ihr nur zwei Möglichkeiten: Sie konnte herausfinden, was Rory geheim halten wollte, bevor er ihr auf die Schliche kam und seine Drohung wahr machte. Oder sie benutzte die Kassette, um ihn ihrerseits zu erpressen.
    Anna beschloss, beide Methoden gleichzeitig anzuwenden.
    Sobald Rorys – oder besser Lesters – Geheimnis auf dem Tisch war, hatte Rory keinen Grund mehr, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Rache war der einzige, der Anna einfiel, doch sie hielt ihn eigentlich nicht für einen rachsüchtigen Menschen. Deshalb nahm sie an, dass sich die Angelegenheit von selbst erledigen würde, wenn sie ihn mit der Wahrheit und der Bandaufnahme konfrontierte.
    Als Anna sich auf den Weg zur Parkverwaltung machte, drückte sie sich die Daumen wie damals als kleines Mädchen und hoffte, dass Rory Van Slyke wie die meisten Jugendlichen bis nach zwölf Uhr mittags im Bett lag.
    Man hatte Anna einen freien Schreibtisch mit Computer im Großraumbüro der Parkverwaltung zur Verfügung gestellt. Wie fast alle Gebäude aus dieser Zeit war es innen und außen grün gestrichen. Da rings herum prächtige alte Fichten mit tief hängenden, dicht benadelten Ästen wuchsen, hatte Anna das angenehme Gefühl, sich in einem Hain verstecken zu können.
    Sie setzte sich an den Computer und betrachtete die Pinnwand über dem Schreibtisch. Sie war mit großformatigen Hochglanzfotos bedeckt, die den Ursus horribilis darstellten, der allerdings ganz und gar nicht schrecklich wirkte. Eine versteckte Kamera mit Bewegungsmelder hatte die großen Bären beim Spielen fotografiert. Jedes Bild zeigte sie, mitten in der Bewegung erstarrt, bei ihrem fröhlichen Treiben. Bären, die sich im Blutköder wälzten, das mit Duftstoffen angereicherte Holz hoch in die Luft warfen und ihren Fund, auf dem Rücken liegend, vor die Brust drückten wie ein Fischotter eine Muschel.
    Widerwillig riss Anna den Blick von den hübschen Aufnahmen los, wandte sich dem tristen grauschwarzen Computerbildschirm zu und atmete tief durch. Ein unverkennbarer Behördengeruch lag in der Luft, in dem viele Jahre angebrannter Kaffee, verschüttete Kopierflüssigkeit und uralter Zigarettenrauch, das Ganze abgerundet von der einzigartigen Note staubiger Aktenordner, mitschwangen.
    Falls die Parkaufsicht jemals die Mittel aufbringen sollte,

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