Blutköder
unterhalten.«
Zurück in Ruicks Pick-up – weiß mit den vorgeschriebenen grün reflektierenden Streifen der Nationalen Parkaufsicht an den Seiten –, schnallten sie sich an. »Unsere Verdächtigen stinken«, stellte Anna fest.
»Ich kann mir diesen Wicht nicht so recht als Mörder vorstellen.«
»Rory passt auch nicht viel besser ins Bild.«
»Natürlich wäre da immer noch der große Unbekannte auf der Durchreise.«
»Ein glücklicher Zufall?«
»Könnte sein. Wenn das stimmt und unser blutrünstiger Mr X inzwischen weitergezogen ist, kriegen wir vielleicht einen Beitrag in der Fahndungsserie Unsolved Mysteries «, meinte er mürrisch.
»Was die Militärjacke angeht, hat er gelogen«, verkündete Anna.
»Glauben Sie? Ich bemerke auch nie, was meine Frau anhat, was sie sehr ärgert.«
Anna nannte ihm ihre Gründe.
»Guter Einwand«, räumte er ein. »Nehmen wir einmal an, er weiß, woher sie die Jacke hat. Um nicht immer vom Schlechtesten auszugehen, sagen wir, er hatte es gestern vergessen, und es ist ihm seitdem wieder eingefallen. Warum macht er dann nicht den Mund auf? Wen schützt er? Wenn die Jacke ihm gehören würde – und Les scheint mir nicht der Mann zu sein, der Sachen aus Armeebeständen trägt –, würde das nichts beweisen. Frauen ziehen ständig die Jacken ihrer Männer an. Außerdem hat er behauptet, sie hätte die Angewohnheit gehabt, sich Dinge auszuleihen.«
»Vielleicht ist es ja Rorys. Er könnte denken, dass die beiden sich getroffen haben. Rory hat sie getötet und ihr die Jacke angezogen, als er die zweite Wasserflasche an sich genommen hat«, schlug Anna vor. Allerdings konnte sie sich nicht erinnern, Rory je in einer Militärjacke gesehen zu haben. Außerdem schien seine Freizeitkleidung hauptsächlich aus modernem Polypropylen-Mikrofleece zu bestehen, weshalb eine dicke, schwere Jacke wie diese nicht so recht zu ihm passen wollte. Doch sie war nicht ganz sicher. »Ich frage Joan«, meinte sie.
Anna stattete Joan im Verwaltungsbüro einen Besuch ab, jedoch nicht, weil ihr die Angelegenheit mit der Jacke großes Kopfzerbrechen bereitete – sie hätte es sicher bemerkt, wenn Rory eine schwere Armeejacke mit in den Wald geschleppt hätte –, sondern damit sie etwas zu tun hatte.
Joan war verzweifelt. Das DNA -Labor der University of Idaho hatte die Haarproben aus den Fallen durcheinandergebracht, die sie gesammelt hatten, bevor ihre Untersuchungen von unangenehmen Ereignissen unterbrochen worden waren. Es hatte eine Verwechslung gegeben, wie Joan Anna bedrückt mitteilte. Das Labor hatte DNA -Werte eines Alaska-Grizzlys zurückgeschickt, nicht die aus dem Nationalpark. Obwohl Alaska-Grizzlys derselben Spezies angehörten, waren sie beträchtlich größer – dreißig bis vierzig Prozent – und wiesen weitere von Evolution und Umwelteinflüssen geprägte Eigenarten auf, sodass man sie anhand von Tests von ihren Vettern im Glacier unterscheiden konnte. Bis Joan ihre Haar- und Kotproben sortiert hatte, würde sie für kein anderes Gesprächsthema zu gebrauchen sein.
Also verließ Anna unbemerkt das Büro und kehrte zurück in die Wohnsiedlung. Obwohl sie gern die Ergebnisse und Sackgassen des heutigen Tages mit Joan erörtert hätte, war es beruhigend, dass es auch Menschen gab, die nicht den ganzen Tag darüber nachgrübelten, wer wen ermordet haben könnte.
Den restlichen Nachmittag verbrachte Anna mit der vertrauten Aufgabe, ihre Sachen für einen Aufenthalt in der Wildnis zu packen. Sie hatte das schon so oft im Leben getan, dass sie die zenartige Gleichförmigkeit des Wäschewaschens, des Sortierens und des Verstauens von Gegenständen in kleinen Plastikbeuteln als so befreiend empfand wie eine Gehmeditation.
Gegen fünf, sie spielte gerade mit dem Gedanken, sich zur Belohnung ein Nickerchen zu gönnen, klopfte Harry an die Fliegengittertür. Der Autopsiebericht war eingetroffen. Da ein Mord im nördlichen Montana Seltenheitswert besaß, hatte die Gerichtsmedizinerin sich sofort mit Carolyn Van Slykes Leiche befasst.
Das meiste wussten Anna und Harry bereits vom Augenschein: keine Abwehrverletzungen, kein sexueller Übergriff, keine Hautfetzen unter den Fingernägeln, keine Kugeln im Körper und auch keine Schnittverletzungen bis auf das vom oberen vorderen Quadranten des Schädels abgetrennte Stück, dessen Gewicht die Gerichtsmedizinerin auf sechzig bis neunzig Gramm schätzte.
Todesursache war ein Durchtrennen des Rückenmarks zwischen dem ersten und zweiten
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