Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
ziehen. Ich hatte mit Criminy an meiner Seite gerechnet, aber er saß immer noch auf dem Floß, mit einem heiteren Lächeln auf seinem halb unsichtbaren Gesicht.
»Tut mir leid, Süße«, meinte er, »aber du wirst mich an Land ziehen müssen. Wenn ich mit dem salzigen Zeug in Berührung komme, bin ich dir danach keine große Hilfe mehr. Könnte sogar die Magie ins Wanken bringen.«
Also zog ich das Floß allein an Land und markierte die Stelle mit einem großen Brocken Treibholz. Criminy betrat den Sandstrand, trocken und putzmunter. Ich dagegen hatte jetzt triefend nasse Stiefel, rutschende Socken und kratzige, feuchte Hosen. Aber das Wissen, dass mein Medaillon endlich in Reichweite war, war mir das wert.
Mit einem fröhlichen »Wollen wir?« rannte er auf den Dschungel zu, schneller als ich mitkam. Wir duckten uns in die Schatten, suchten Deckung hinter tropischen Bäumen und blühenden Büschen. Aus der Nähe, so etwa sieben Meter von unserem Versteck im Dschungel entfernt, war die Mauer sogar recht hübsch, mit schillernden Muscheln, Seeigeln und Katzensilber. Es war warm, mit einer leichten Brise und absolut gar nicht wie irgendeine Insel, die jemals in der Nähe von Großbritannien existiert hatte. Ein solcher Ort wäre in meiner Welt ein Traumziel für Touristen gewesen.
Jedoch wurde der schöne Effekt vollkommen ruiniert von den Totenschädeln, die oben an der Mauer aufgereiht waren, direkt unter dem Stacheldraht.
Criminy stieß die Luft durch die Nase aus, so wie Männer es tun, wenn sie drauf und dran sind, sich auf ihre Steinzeitwurzeln zu besinnen und auf irgendwas dreinzuschlagen. »Das sind alles Bludmänner«, sagte er. »Und Frauen. Und Kinder.«
Zuerst konnte ich den Unterschied nicht erkennen. Aber dann sah ich die Zähne. Wenigstens waren die Schädel alt, von der Sonne gebleicht. Keine neuen.
»Dafür wird dieser Bastard bezahlen«, knurrte er leise.
In der Deckung des Dschungels liefen wir an der Mauer entlang und suchten nach einem Weg hinein. Es gab keine Fenster, keine Schießscharten, keine Leute. Nichts. Und das für lange Zeit. Nur seltsame Geräusche von drinnen, Krachen und Schnauben und das Geräusch von Bewegungen. Endlich, als es uns schon so vorkam, als hätten wir die Insel einmal ganz umrundet, stießen wir auf ein Paar Doppeltüren, die mit schweren rostigen Ketten und einem enormen Vorhängeschloss gesichert waren.
Bei dem Anblick fing Criminy an zu lachen.
»All das, alter Mann? All das, und dann ist es nur ein altes Schloss?«
»Aber vielleicht sind drinnen noch Wachen«, wandte ich ein. »Vielleicht ist sie verriegelt?«
»Gibt nur einen Weg, um das rauszufinden«, meinte er und gab mir seine Harpune.
Bevor ich ihn noch fragen konnte, wie er von mir erwarten konnte, dass ich zwei unsichtbare Harpunen auf einmal abfeuern könne, war er schon zur Mauer gelaufen und jagte daran hinauf wie eine Katze, die auf einen Baum klettert. Ich ließ seine Harpune fallen und hob meine an die Schulter, in der Erwartung, dass gleich irgendetwas Schreckliches passieren würde und die Falle letztendlich doch noch zuschnappte.
Er warf einen schnellen Blick über die Mauer auf das Gelände und duckte sich wieder. Dann schaute er langsam noch einmal über die Mauer, wobei er seinen Kopf in einem seltsamen Winkel neigte. Gleich darauf schlüpfte er unter dem Stacheldraht durch und verschwand. Ich war kurz davor, aus lauter Sorge und Neugier zu hyperventilieren, und mein Finger am Abzug der Harpune fühlte sich zittrig an.
Drinnen war ein lautes Dröhnen zu hören. Die Ketten fielen zu Boden, die Tür ging quietschend auf, und Criminy kam heraus, nicht länger unsichtbar, und mit einem höchst merkwürdigen Lächeln im Gesicht, ungläubig und amüsiert zugleich.
»Komm mit, Letitia«, rief er. »Es ist niemand hier.«
Noch immer nervös und misstrauisch schnappte ich mir seine Harpune und schlich auf Zehenspitzen aus dem Schatten in das helle Licht der Sonne. Ich konnte gar nicht begreifen, dass die Insel leer war, dass da nicht irgendwo jemand lauerte, der mir ans Leder wollte. Criminy streckte die Hand aus. Ich ergriff sie, und er zog mich durch die Tür und hinter die weiße Mauer.
***
Der Ort war vollkommen verlassen.
Wir hatten Jonah Goodwills sagenumwobene Insel gefunden, soviel war sicher. Aber er war nicht da, weder er noch sonst jemand. Nur jede Menge Tiere, eine wahrhaftige Arche Noah, was all die eigenartigen Geräusche erklärte, die wir gehört hatten. Einige davon
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