Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
zu freundlich. Bitte sehen Sie einem alten Sonderling seine Kleinstadtmanieren nach.«
Er ignorierte ihre weiteren Appelle und schlängelte sich in eine entfernte Ecke des Saales durch, um dort ein Bücherregal zu betrachten und höfliche Konversation mit der alten Dame mit der Bienenstockfrisur zu betreiben. Das Mädchen am Cembalo beendete den Walzer und begann, eine andere traurige Melodie zu spielen, zu der es auch noch falsch sang. Casper hatte recht – wenn das alles an Konkurrenz war, konnte er hier ein Riesengeschäft machen.
Die Männer am Billardtisch blockierten mir die Sicht, sodass ich nicht sehen konnte, was Rafael so aus der Fassung gebracht hatte. Also schlich ich an der Wand entlang, bemüht, um die ganzen Leute herumzukommen und freie Sicht zu haben. Da plötzlich erklang eine Stimme, die den leiseren Sopran der Cembalistin übertönte, und alles drehte sich neugierig um. Die alten Männer gingen auseinander – und in den Raum stolzierte Miss Tabitha Scowl und sang dabei wie ein Engel.
Und an ihrem schneeweißen Hals hing mein Medaillon.
32.
N och nie hatte ich jemanden so gehasst wie Tabitha Scowl. Sie war klein und wunderschön, und das ohne sichtbare Anstrengung. Sie hatte eine wunderbare Stimme, während ich mich, wenn ich mal sang, anhörte, als würde ich mit Beton gurgeln. Sie hatte Haltung, Stil, Selbstvertrauen und Leidenschaft.
Und das Wichtigste: Sie hatte mein Medaillon. Und wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, wozu es gut war.
Während sie das Lied zu Ende sang, setzte sie ein kokettes Lächeln auf und steuerte mit raschelndem blaugrünem Kleid auf die beiden jüngsten und attraktivsten Bludmänner im Saal zu. Die unterbrachen ihr Billardspiel und plauderten mit der Schönen des Abends, ihre Queues nonchalant in den Händen. Ich schlich näher heran, um zu lauschen, aber es war nur albernes Geflirte, nichts Hilfreiches.
Aber wieso war sie hier? Warum vertraute Goodwill ihr mein Medaillon an? War sie einer der Gründe, warum die Coppers immer wussten, was auf dieser Party so vor sich ging? Und falls ja, warum sagte sie dann nichts Interessantes?
Ich rückte noch etwas näher und lauschte, aber sie machte nur einem Bludmann Komplimente zu seinen Muskeln. Nur eine Armlänge von mir entfernt funkelte das Medaillon. Es hing direkt unter ihrem korsettgestützten Busen, nicht, wie bei mir, über dem Herzen, dafür war sie zu klein. Wie gebannt beobachtete ich das Medaillon, sah es hin und her pendeln, wenn sie sich bewegte, betrachtete liebevoll das tiefe Rot des Rubins und die interessante Gravur auf dem glänzenden Gold.
Meins, dachte ich.
Etwas stupste mich von hinten, und eine der alten Damen rief: »Verzeihung, Sir!« Dann warf sie einem der jungen Männer einen bösen Blick zu und fuhr fort: »Wenn Sie hier mit ihrem Stock herumfuchteln, sollten Sie besser Manieren lernen!«
Der junge Mann starrte verwirrt auf sein Queue und entschuldigte sich. Ich musste vorsichtiger sein, bevor noch jemand richtig mit mir zusammenstieß und einen Tumult auslöste.
Ich raffte meine Röcke und schlich auf Zehenspitzen um Tabitha herum, bis ich mit dem Rücken an der Wand hinter ihr stand. Beim Bücherregal konnte ich Rafael sehen, wie er mit besorgt gerunzelter Stirn Tabitha um die weiße Bienenstockfrisur der alten Dame herum beobachtete. Dann ließ er den Blick fieberhaft durch den Saal schweifen, auf der Suche nach mir, auch wenn ich unsichtbar war.
Ich presste mich so flach wie möglich gegen die Wand, als ein Bludmann sich vorbeidrängte, um sich dem Kreis von Tabithas Bewunderern anzuschließen. Dabei blieb mir nichts anderes übrig, als die Atemluft, die von ihm ausging, einzuatmen. Ugh . Altmänneratem mit überwältigend üblem Geruch nach Blut – noch schlimmer als bei Tabitha. Kein Wunder, dass Emerlie Bludmänner für übelriechend hielt.
Tabitha lachte gerade, und ich konnte die Kette um ihren Nacken hängen sehen, wie sie sich mit den Härchen verwickelte, die sich aus ihrer Hochfrisur gelöst hatten. Mit jeder Faser meines Körpers drängte es mich danach, mich auf sie zu stürzen, ihr das Medaillon abzureißen und damit das Weite zu suchen – aber mir war klar, dass das in einem Desaster enden würde. Ich musste einfach in ihrer Nähe bleiben und ihr folgen, wenn sie die Party wieder verließ. Dennoch zog mich die Halskette in ihren Bann, und so sehr ich Tabitha auch hasste, konnte ich nicht anders als mich immer näher an sie heranzuschleichen, bis ich schließlich
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